Susan Neiman will mit Moral gegen die Resignation vorgehen. Daraus ist ein "Leitfaden für erwachsene Idealisten entstanden.

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Die amerikanische Philosophin Susan Neiman über die Scheu der Linken vor dem Heldenbegriff, über die Rehabilitation von Gutmenschen und die Wiederkunft der Moral in der Gesellschaft. Von Christoph Prantner.

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STANDARD: Mit Ihrem neuen Buch wollen Sie der Welt "Moralische Klarheit" geben. Das sind ziemlich große Worte in Zeiten wie diesen.

Neiman: Der Titel ist ausdrücklich provokativ gemeint. Moralische Klarheit - diese Worte hat George W. Bush zuletzt prominent benutzt. Ich habe den Titel gewählt, um zu signalisieren, dass die moralischen Begriffe in jüngster Zeit nur von den Rechten übernommen wurden. Linke trauen sich nicht mehr, sie zu benutzen. Das ist ein entscheidender Fehler, den ich ansprechen wollte. Übrigens: Der Untertitel lautet Leitfaden für erwachsene Idealisten. Was bedeutet Idealismus heute? Der Begriff ist ein Schimpfwort geworden. Wir hören allenthalben das Gebot: Sei doch realistisch. Aber eigentlich bedeutet das: Schraub deine Erwartungen herunter. Erwachsenwerden einfach gleichzusetzen mit Resignation, dagegen möchte ich kämpfen.

STANDARD: Kritiker könnten Ihnen vorwerfen, dass Sie eine Gutmenschenfibel geschrieben haben.

Neiman: Die Welt schrieb zuletzt, ich wolle den Begriff des Gutmenschen rehabilitieren. Diese Diagnose stimmt vielleicht auch.

STANDARD: Sie schreiben in Zusammenhang mit moralischem Handeln auch über Helden. In der europäischen Tradition tut man sich schwer mit dem Begriff, man muss ihn zuerst quasi dekontaminieren.

Neiman: In Deutschland zumindest gibt es so etwas wie Vergangenheitsverarbeitung. Das ist ein beispielloser Vorgang, in dem ein Volk mit zunehmend genuinem Interesse sich mit dem eigenen Verbrechen auseinandergesetzt hat. Insofern ist eine historische Dekontamination schon passiert. Aber deren moralische Folgen sind bei weitem noch nicht erkannt worden. Ich treffe immer Menschen, die auf das Wort Held allergisch sind. Aber wir brauchen Helden als Beweise, dass auch einfache Menschen unter schwierigen Umständen moralisch handeln können. Bei der Linken gab es die Haltung - zumindest vor Obama -, dass dieser Begriff unbrauchbar ist. Das heißt aber, dass gerade die stärksten Werkzeuge der Moral in den Händen derer bleiben, die sie missbrauchen, damit dämonisieren und verlogene Ziele verfolgen.

STANDARD: Was macht es denn für einen Unterschied, ob Rechte oder Linke mit Moral als Herrschaftsinstrument ihre Ideologie zu legitimieren versuchen?

Neiman: Moral ist ein Machtinstrument, ja, aber kein Herrschaftsinstrument. Sie kann zu guten oder schlechten Zwecken missbraucht werden. Wer im Zusammenhang mit Moral von Herrschaft spricht, bei dem schwingt Zynismus mit. Ich bin tief davon überzeugt, dass wir moralische Bedürfnisse haben und nicht nur aus Eigeninteresse handeln. Wenn diese Bedürfnisse nicht auf eine ernsthafte und reflektierte Weise befriedigt werden, dann laufen die Menschen zu Demagogen über - ob das nun Tea Parties sind oder Al-Kaida. Beides ist ein Ausdruck einer Unzufriedenheit mit rein materialistischem Denken, das Sinn durch Konsum erzeugen will. Wir wissen, dass das nicht funktioniert. Aber trotzdem haben wir immer noch Berührungsängste mit jenen Begriffen, die unser Leben mit Sinn erfüllen.

STANDARD: Sie schreiben von der Wiederkehr der Moral, auch jene der Religion ist evident. Der Papst beklagt stets die "Diktatur des Relativismus", dabei haben viele lange genug unter dem Absolutheitsanspruch der Kirche gelitten.

Neiman: Es gibt einen Unterschied zwischen Religion und Moral. In der Geschichte von Sodom und Gomorrha zum Beispiel wagt es Abraham, Gott anzuklagen wegen Ungerechtigkeit. Er gibt Gott eine Lektion in Moral, weil er ihm vorwirft, Schuldige mit Unschuldigen sterben zu lassen. Das zeigt: Die Moral kommt zuerst. Leider scheint der Papst wenig von der rationalistischen Tradition seiner Religion zu halten. Das ist ein autoritärer Religionsbegriff, von dem man Herrschaft ableiten möchte. Aber wenn Gott selber in dieser Parabel über die Gerechtigkeit nachdenken muss, dann müssen wir das alle tun. Es gibt keine absoluten Gesetze. (DER STANDARD, Printausgabe, 2.10.2010)