Christian Kandlbauer kann mit Hilfe seiner Prothese ein selbstständiges Leben führen

foto: otto bauer

Erstmals in der Geschichte der Prothetik kann eine Prothese somit sinnliche Wahrnehmungen über die Nervenbahnen zurück an das Gehirn übertragen

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Kandlbauer zur Operation: "Heute bin ich mehr als froh, dass ich ja gesagt habe.“

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Christian Kandlbauer ist 17 Jahre alt, als ihm nach einem schweren Stromunfall auf der rechten Seite der Arm knapp unterhalb des Schultergelenks und auf der linken Seite der gesamte Arm inklusive des Schultergelenks amputiert werden müssen. An den Unfall selbst kann er sich nicht mehr erinnern: „Ich weiß nur noch, dass es ein Elektrounfall an einem 20.000 Volt Hochspannungsmast war“, sagt er und ergänzt „Das einzige was ich noch weiß ist, dass mir ein Psychologe am Krankenbett gesagt hat, dass ich keine Arme mehr habe. Da ist eine Welt für mich zusammengebrochen“, erzählt er im Gespräch mit derStandard.at.

Selbstständig und unabhängig

Heute sei sein Leben „weitgehend das, das ich vor meinem Unfall führte“ und er beinahe wieder „so selbstständig und unabhängig“ wie vor dem Unfall. In jenem Betrieb, in dem er damals seine Lehre als KfZ-Mechaniker begonnen hatte, ist Kandlbauer jetzt als Lagerverwalter tätig. Mit einem vom Medizintechnikunternehmen Otto Bock in Kooperation mit Paravan, einem auf behindertengerechte Fahrzeugumbauten spezialisierten Unternehmen, umgebauten Auto kann der heute 22-Jährige wieder selbstständig in die Arbeit fahren.

High-Tech-Prothese

Möglich macht ihm das eine revolutionäre Neuentwicklung im Bereich der Medizintechnik, nämlich eine gemeinschaftlich von der Firma Otto Bock Healthcare Products, dem Chirurgen Todd Kuiken vom Rehabilitation Institute of Chicago und dem Wiener Allgemeinen Krankenhaus (AKH) entwickelte High-Tech-Prothese, die von ihrem Träger gedanklich gesteuert werden kann. Während Christian Kandlbauer rechts eine konventionelle Prothese, die er mit zwei Muskeln (Bizeps und Trizeps) steuert, trägt, ist es auf der linken Seite eine gedankengesteuerte Armprothese, die er Kraft seiner Gedanken steuert und kontrolliert. „Er bewegt diese Prothese aus der gedanklichen Vorstellung heraus, das heißt er bewegt nur den in seiner Erinnerung befindlichen Arm, den Phantomarm. Die Prothese erkennt diesen Gedanken als Wille und führt ihn aus. Dieser Vorgang ist im Prinzip ähnlich, wie bei einem Menschen mit natürlichen Armen.“, erklärt Hubert Egger, Leiter des Projekts „Gedankengesteuerte Prothese“ bei Otto Bock die Funktionsweise dieser bahnbrechenden Erfindung.

Selektiver Nerventransfer

Vorbedingung für die Anwendung der gedankengesteuerten Arm-Prothese ist eine komplexe Operation, bei der eine Verlagerung der Nerven erfolgt. Als Targeted Muscle Reinnervation (TMR) wird das von Todd Kuiken entwickelte Operationsverfahren, das bislang weltweit erst von drei Chirurgen durchgeführt wurde, bezeichnet. Jene Signale, die auch ursprünglich für die Steuerung des Arms verantwortlich waren, können durch diesen selektiven Muskeltransfer für die Steuerung der Prothese genutzt werden. „Bei Christian Kandlbauer wurden vier Nerven aus dem linken Armgeflecht zu einem Teil der linken Brustmuskulatur umgeleitet. Diese Muskulatur, die ursprünglich, das heißt vor Christians Unfall, seinen linken Arm bewegt hat, dient jetzt als biologischer Verstärker für die Ströme aus den umgeleiteten vier Nerven“, beschreibt Egger den komplizierten Operationsvorgang. Über hochempfindlichen Endverstärkern, die mit ihren elektrischen Kontakten die Hautoberfläche im Brustbereich zart berühren, kommen diese Ströme in die Prothese.

Fühlende Hand

Die Weiterentwicklung der gedankengesteuerten Prothese ist die fühlende Hand, mit deren Hilfe Christian Kandlbauer Temperatur fühlen, rauen und glatte Oberflächen unterscheiden oder auch die Kraft eines Händedrucks spüren kann – erstmals in der Geschichte der Prothetik kann eine Prothese somit sinnliche Wahrnehmungen über die Nervenbahnen zurück an das Gehirn übertragen. Mikrosensoren, die in der Zeigefingerkuppe der Prothesenhand integriert sind, übernehmen dabei die Funktion der natürlichen Sensoren der Hand und melden dem Gehirn, was der Träger fühlt. Dass er nach seinem Unfall seinen Arm wieder bewegen und mit seiner Hand wieder fühlen können würde, hat Christian Kandlbauer zunächst nicht geglaubt: „Nein, ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie das funktionieren soll - eine gedankengesteuerte Armprothese. Ich habe es mir aber ausführlich erklären lassen und immer mehr Vertrauen gefasst. Heute bin ich mehr als froh, dass ich ja gesagt habe.“ (derStandard.at, 5.10.2010)