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Eine Aktivistin bei einer Mahnwache weint vor dem Bild von Liu Xiaobo. Der Literat wurde 2009 zu elf Jahren Haft verurteilt.

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Liu Xiaobo am Grab des Dissidenten Bao Zunxin, der wegen der 89 Proteste am Tiananmen-Platz verurteilt wurde.

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Der denkwürdige Tag, an dem der Bürgerrechtler Liu Xiaobo den Friedennobelpreis zugesprochen bekam, begann für seine Frau Liu Xia in Peking geradezu kafkaesk.

Wie jeden Monat hätte sie sich Anfang Oktober bei der Gefängnisverwaltung im nordostchinesischen Jingzhou melden müssen, um einen Termin zu erhalten. Ein Besuch bei ihrem Mann, der 2009 zu elf Jahren Haft verurteilt wurde, ist nur alle 30 Tage erlaubt. Die Gefängnisbürokraten waren wegen der verlängerten Nationalfeiern erst am gestrigen Freitag wieder zu erreichen. Doch ihre Anrufe blieben unbeantwortet. Stattdessen kam die Pekinger Polizei.

Sie könnten sie nach Jingzhou bringen, boten die Polizisten an, wie Liu Xia dem Standard am Freitag schilderte. Dort sei sie näher bei ihrem Mann und könne ihn sofort besuchen, wenn sie die Erlaubnis erhalte. Ein durchsichtiges Manöver, um sie aus Peking wegzubringen - Liu Xia schlug es aus. Sie werde vielmehr vor die Kameras aus aller Welt treten.

Dieser Absicht machte die Polizei einen Strich durch die Rechnung. Am Nachmittag kam sie ungebeten in die Wohnung. Liu Xia konnte sich kurz noch telefonisch melden: Die Polizei habe verlangt, dass sie ihre Sachen packe und mit den Beamten ins 470 Kilometer entfernte Jingzhou fahre. Die seit Wochen spürbare Nervosität bei der Pekinger Führung, dass der 54-Jährige den Preis erhalten könnte - am Freitag kam sie zum Siedepunkt.

Als die Bekanntgabe des Preisträgers um 17 Uhr Ortszeit von CNN und BBC live auch nach China übertragen wurde, blendete Peking die Fernsehprogramme aus. Die Aufseher über die Internetportale hatten schon am Morgen die Anweisung erhalten, weder Namen noch Preis zu nennen, falls die Auszeichnung an Liu falle. Dann eine erste Stellungnahme vom Außenministerium: Die Auszeichnung "widerspricht völlig den Absichten des Nobelpreises und ist eine Entweihung des Friedenspreises". Drohender Nachsatz: Die Verleihung könne den chinesisch-norwegischen Beziehungen Schaden zufügen.

Ganz anders Lius Mitstreiter, die seinen Freiheitsaufruf "Charta 08" unterzeichnet haben, für den er nun im Gefängnis sitzt: Die bekannte Pekinger Professorin Cui Weiping sagte, der Preis sei auch "für Chinas sich entwickelnde Demokratie". Sie wünsche sich, dass Chinas Regierung ihn nicht als Druck, sondern als "Antriebskraft für Reformen" begreife.

Der Philosoph Xu Youyu sagte, Liu habe sich immer nur von zwei Begriffen leiten lassen, um seine Ideale durchzusetzen: "rational und friedlich". Xu hatte sich wie hunderte andere chinesische Intellektuelle in E-Mails an das Nobel-Komitee für den Preis eingesetzt. "Lius Auszeichnung ist so auch ein Trost für elf Jahre Haft."

Warnungen an Oslo

Kein Unrechtsurteil hat so viel internationale Aufregung verursacht und den Ruf Pekings so beeinträchtigt, wie die Verfolgung Lius, der sich seit 20 Jahren einsetzt, die wirtschaftlich erfolgreiche chinesische Gesellschaft auf friedlichem Weg zu demokratisieren.

Chinas vorbeugende Warnungen an Oslo gingen nun alle nach hinten los. Die Vizeaußenministerin Fu Ying dementierte, dass sie auf Norwegen im Juni Druck ausgeübt habe, den Preis nicht an Liu zu vergeben. Doch es war der Direktor des Nobel-Instituts, Geir Lundestad, selbst, der das im norwegischen Fernsehen enthüllte. Lundestad erinnerte an Pekings Zorn 1989, als der Friedenspreis an den Dalai Lama ging.

Liu Xia weiß nicht, wann sie in Jingzhou das Gefängnis besuchen kann. Noch ahne ihr Mann nichts vom Nobelpreis. Bis zum 21. Juni 2020 muss der Bürgerrechtler laut Urteil in Haft bleiben. Die Richter rechneten ihm nicht einmal ein halbes Jahr Isolationshaft an. Sechs Monate hielt die Polizei ihn fest, nachdem sie ihn im Dezember 2008 aus seinem Haus verschleppt hatte. Erst im Juni 2009 wurde er offiziell in Untersuchungshaft genommen, bevor das Gericht ihn Weihnachten 2009 unter Missachtung aller rechtsstaatlichen Prinzipien verurteilte.

Der einstige Pekinger Universitätsdozent für Literatur hat Haftanstalten aller Art in den vergangenen 20 Jahren kennengelernt. Seine Ansichten hat er dadurch nicht geändert. Er kritisierte die Einparteienherrschaft als Quelle von Unrecht, Korruption und krassen sozialen Unterschieden, forderte freie Wahlen und Gewaltenteilung. Aber er trat immer für eine gewaltfreie Überwindung der Machtstrukturen ein.

Liu lobte auch Chinas Politik, für das, was sie für die Wirtschaftsentwicklung leistete. Das hat ihm Feinde unter den Exil-Dissidenten gebracht, die die Kommunistische Partei gewaltsam stürzen wollen. Ein Gruppe forderte das Nobelpreiskomitee auf, Liu auf keinen Fall den Friedensnobelpreis zu verleihen.

In den Augen des Politbüros wird er durch seine Appelle nach einem friedlichen Wandel noch gefährlicher. Peking nannte ihn schon nach dem Tiananmen-Massaker am 4. Juni einen "konterrevolutionären Vorkämpfer für eine bürgerliche Republik", als sie ihn zum ersten Mal für 20 Monate wegsperrte.

Internet als Medium

An der Verfolgung ist er nicht zerbrochen. Das Internet wurde sein Medium. Mehr als 1500 Artikel und Essays hat Liu Xiaobo online im In- und Ausland veröffentlicht - darunter auch die "Charta 08", für ihn eine Plattform zur Einleitung politischer Reformen. Für die chinesische Justiz sein bisher gefährlichstes Verbrechen.

Das Gericht wählte im vergangenen Jahr sechs Beiträge aus, aus denen es Passagen zur Grundlage seines Urteils machte. Aus Aufsätzen wie Der diktatorische Patriotismus der Partei oder Durch die Veränderung der Gesellschaft zur Veränderung der Staatsmacht kommen filterten sie angebliche Umsturzabsichten. Ein Satz, dem sie ihm vorwarfen, heißt: "Seit die Kommunisten an der Macht sind, haben sich alle ihre Diktatoren am meisten darüber Sorgen gemacht, wie sie ihre Macht erhalten können - und am wenigsten darüber, wie es dem Volk ergeht." (Johnny Erling aus Peking, DERSTANDARD-Printausgabe, 09./10.10.2010)