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Liu Xiaobo auf einem undatierten Archivbild

Foto: epa/Liu XIa

Wien - Wie oft die Polizei vor seiner Tür stand, um seine Wohnung zu durchsuchen oder ihn mitzunehmen, weiß der chinesische Dissident Liu Xiaobo vermutlich nicht zu sagen. Mehrmals schickte ihn die Staatsgewalt über Monate und Jahre ins Gefängnis, in den Hausarrest, in das Arbeitslager. Sein Anwalt Mo Shaoping formulierte einmal: "Sein einziges Vergehen ist, dass er sich geäußert hat." Weil er trotz der massiven Einschüchterungen immer wieder aufgestanden ist, und seine Meinung und Kritik zum Tiananmen-Massaker, zu Tibet, zur Einschränkung der Bürgerrechte im chinesischen Ein-Parteien-System kundtat, ist Liu (54) am Freitag der Friedensnobelpreis 2010 zuerkannt worden.

Persönlich wird der Bürgerrechtsaktivist, Schriftsteller und Literaturprofessor, der maßgeblich an der vom Militär blutig niedergeschlagenen Demokratiebewegung von 1989 beteiligt war, die hohe Ehrung nicht entgegennehmen können. Wenn sie ihm am 10. Dezember in Oslo überreicht werden sollte, wird er sich bereits mehr als sechs Jahre seines Lebens in Gewahrsam befunden haben. Zuletzt wurde er vor zwei Jahren eingesperrt, weil er gemeinsam mit rund 300 anderen chinesischen Intellektuellen die Charta 08 verfasst hatte: ein regimekritisches Manifest, das die Lage der Volksrepublik analysiert und demokratische Reformen verlangt, angefangen von Gewaltenteilung und Meinungsfreiheit bis hin zu einer unabhängigen Justiz und Umweltschutzmaßnahmen. Insgesamt elf Jahre soll er dafür absitzen.

Geboren wurde Liu Xiaobo am 28. Dezember 1955 in Changchung in Nordostchina. Dort begann er auch, Literatur zu studieren. In Peking machte er den Doktor und wurde in der Hauptstadt Dozent an der Pädagogischen Universität. Sein Institut wurde zu einem Zentrum der Demokratiebewegung, die im Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens (Tiananmen-Platz) mit Panzern blutig niedergeschlagen wurde. Liu war einer der Letzten, die sich für mehr Freiheit im Hungerstreik befanden, und die Truppen zu beschwichtigen versuchte. Eineinhalb Jahre wurde er daraufhin ohne Prozess inhaftiert.

Die zweite - siebenmonatige - Inhaftierung folgte 1995. Beim dritten Mal wurde er für drei Jahre zur "Umerziehung" in ein Arbeitslager gesteckt. Zuvor hatte er die chinesische Führung zur Achtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker und zu Gesprächen mit dem Exil-Oberhaupt der Tibeter, dem 1989 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Dalai Lama, aufgerufen. Selbst danach ließ Liu nicht locker, pochte weiterhin öffentlich und direkt gegenüber der Regierung auf demokratische Reformen, Menschen- und Bürgerrechte, die Freilassung politischer Gefangener und ein Ende der Internetzensur. Der Gefahr für sich selbst war er sich bewusst: "Wenn ich meine Artikel schreibe, gerate ich zwangsläufig mit der Regierung in Konflikt. Aber das ist meine Wahl. Ich werde den Preis dafür zahlen."

Als Lehrer durfte er zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr arbeiten. Er lebte als freier Schriftsteller in Peking. Aber auch veröffentlichen durfte er in seiner Heimat seit der Beteiligung an den Protesten am Tiananmen-Platz nichts mehr. "Sogar mein Name 'Liu Xiaobo' ist in den einheimischen Zeitungen, TV-Programmen und jenem Teil des Internets, den das chinesische Volk sehen darf, verboten", schrieb Liu Xiaobo, der 2003 zum Präsidenten des China-Zweiges der internationalen Schriftstellervereinigung PEN gewählt wurde, einmal.

Zum bisher letzten und schwersten Schlag gegen den Dissidenten holte die harte Hand Pekings aber noch im Jahr der Olympischen Spiele von Peking aus, als sich Liu - illusionslos, dass die internationale Veranstaltung, wie vom Westen erhofft, Verbesserungen in der Volksrepublik bringen konnte - weiter unermüdlich für Bürgerrechte eintrat und die Charta 08 mitorganisierte. Für die Charta wurde er wegen Subversion - ein Delikt, dessen Abschaffung das Dokument fordert - nach nur zweieinhalbstündiger Anhörung unter Ausschluss der Öffentlichkeit verurteilt. Eine Welle des internationalen Protests und der Empörung änderten daran nichts.

Mit dem Friedensnobelpreis für Liu als ersten Chinesen ist es der chinesischen Führung letztlich jedoch nicht gelungen, einen ihrer prominentesten Kritiker einfach wegzusperren und in die Versenkung verschwinden zu lassen. Dabei hatte Peking von höchster Stelle kürzlich noch beim norwegischen Nobel-Komitee drohend gegen eine Vergabe an Liu interveniert - vergeblich: Diese Schlacht im Propagandakrieg der chinesischen Führung, grundrechtliche und soziale Defizite hinter der wirtschaftlichen Prosperität Chinas zu verstecken, ist gescheitert. Die Frage der mangelnden Menschenrechte in China hat durch den mit dem Friedensnobelpreis geadelten Kampf Liu Xiaobos eine neue und bleibende Weltöffentlichkeit bekommen. (Martin Richter/APA)