Wien - Der chinesische Dissident Liu Xiaobo hat den Friedensnobelpreis 2010 zuerkannt bekommen. Er gehörte Ende 2008 zu den mehr als 300 Unterzeichnern der Charta 08, die in der Tradition der tschechoslowakischen Charta 77 für mehr Demokratie und Freiheit in der Volksrepublik eintritt. Während andere intellektuelle Unterstützer des Manifests lediglich verhört oder eingeschüchtert wurden, erhielt Liu eine elfjährige Haftstrafe wegen "Untergrabung der Staatsgewalt". Im Folgenden Auszüge aus der Charta 08:

"I Vorwort"

2008 jährt sich die erste Verfassung Chinas zum hundertsten, die 'Erklärung der universellen Menschenrechte' zum 60. und die Pekinger 'Mauer der Demokratie' zum 30. Mal. Und vor zehn Jahren unterzeichnete die chinesische Regierung den (völkerrechtlichen UNO-Vertrag; Anm.) 'Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte'. Die chinesischen Bürger sind nach langwierigen, mühsamen und von Rückschlägen gezeichneten Kämpfen aufgewacht und erkennen in täglich wachsender Klarheit, dass Freiheit, Gleichberechtigung und Menschenrechte gemeinsame und universelle Werte der Menschheit sind, dass Demokratie, Republik und die verfassungskonforme Regierung Fundament und Rahmen einer modernen Politik sind. Eine 'Modernisierung', die sich von diesen universellen Werten und solchen Grundlagen der Politik entfernt, kann nur zu einer Katastrophe werden, weil sie den Menschen ihre Rechte raubt, ihre Vernunft korrumpiert und ihre Würde zerstört. (...)

Das 'Neue China' (Chiffre der Kommunistischen Partei für ihren Staat; Anm.) von 1949 war indessen nur dem Namen nach eine 'Republik des Volkes', tatsächlich war es die 'Welt der Partei'. Die herrschende Partei monopolisierte alle politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ressourcen und produzierte eine Serie menschenrechtlicher Katastrophen (...) Dutzende Millionen Menschen kamen bei alldem ums Leben, die Chinesen und ihr Land zahlten einen verheerenden Preis.

Mit dem Prozess von 'Reform und Öffnung', der am Ende des 20. Jahrhunderts begann, ließ China die allgemeine Armut und den vollkommenen Totalitarismus der Zeit Mao Zedongs (Mao Tse-tungs) hinter sich, das Lebensniveau der Bevölkerung stieg erheblich, individuelle Wirtschaftsfreiheiten und soziale Rechte kehrten teilweise zurück, eine Bürgergesellschaft begann zu wachsen. Seither nehmen auch die Rufe nach Menschenrechten und politischer Freiheit zu. Während die Machthaber die Wirtschaft in Richtung Markt und Privatisierung reformierten, begannen sie auch damit, nach und nach von der Ablehnung der Menschenrechte zu deren sukzessiver Anerkennung überzugehen. (...) Freilich sind solche Fortschritte bis heute zu großen Teilen auf das Papier beschränkt, auf dem sie stehen; wir haben Gesetze, aber keine gesetzeskonforme Herrschaft, wir haben eine Verfassung, aber keine entsprechende Regierung. (...) Der machthabende Block hält weiterhin daran fest, seine autoritäre Herrschaft zu verteidigen. Er verweigert eine politische Wende, was geradewegs zur heute endemischen Beamten-Korruption führt, die die Schaffung einer legitimierten Herrschaft erschwert, die Rechte der Menschen verschüttet, alle Ethik zerstört, die Gesellschaft polarisiert und die Wirtschaft in abnormer Weise entwickelt. (...) Die Rechte der Bürger auf Freiheit, Eigentum und die Verfolgung ihres Glücks haben keinen systemischen Schutz. Gesellschaftliche Widersprüche jeder Art türmen sich ununterbrochen auf, die Unzufriedenheit steigt weiterhin, und insbesondere verschärft sich der Antagonismus zwischen Funktionären und Bevölkerung. Die Anzahl sogenannter Zwischenfälle mit Massencharakter (Großdemonstrationen, häufig gewaltsam) steigt so scharf an, dass sich schon ein katastrophaler Trend zum Verlust der Kontrolle zeigt. Die Rückständigkeit des gegenwärtigen Systems ist an einem Punkt angekommen, wo es ohne Reformen gar nicht mehr geht."

Unter "II Unser grundsätzliches Konzept" wird dazu aufgerufen, den Modernisierungsprozess zu überdenken; die Grundsätze Freiheit, Menschenrechte, Gleichberechtigung, Res publica, Demokratie und verfassungsgemäßes Regieren müssten bekräftigt werden.

Unter "III Wofür wir grundsätzlich eintreten" sind aufgezählt: 1. Revision der Verfassung, 2. Gewaltenteilung und Machtbalance, 3. Eine demokratische Legislative, 4. Unabhängigkeit der Judikative, 5. Öffentliches Eigentum gehört der Öffentlichkeit, 6. Sicherung der Menschenrechte, 7. Wahl der Beamten, 8. Städter und Landbewohner sind gleich, 9. Organisationsfreiheit, 10. Versammlungsfreiheit, 11. Freiheit der Rede, 12. Religionsfreiheit, 13. Ein Bildungssystem für Bürger, 14. Schutz des Eigentums, 15. Finanz- und Steuerreform, 16. Soziale Sicherung, 17. Schutz der Umwelt, 18. Bundesrepublik, 19. Rehabilitation der Ungerechtigkeiten.

"IV Schluss"

Als eines der großen Länder der Erde, als eines der fünf Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinen Nationen, als Mitglied des Ausschusses für Menschenrechte muss China eigene Beiträge für die friedliche Sache der Menschheit und Fortschritte bei den Menschenrechten leisten. Es ist bedauerlich, dass allein China unter den Großmächten der heutigen Welt sich noch im Zustand eines autoritären politischen Systems befindet und aus diesem Grund fortwährend Menschenrechtskatastrophen und soziale Krisen produziert, die Entwicklung der Nation aus eigener Kraft fesselt und den zivilisatorischen Fortschritt der Menschheit einschränkt. Dieser Zustand muss geändert werden! Die Überführung der politischen Herrschaft in eine Demokratie erlaubt keinen weiteren Aufschub mehr." (APA)