Wer nicht zurückgeblieben ist, kann nun ungehindert der "Bitte, sich festzuhalten" nachkommen: Bürgermeister Häupl, hier bei einer Probefahrt auf der verlängerten U2, zeigt, wie's geht.

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Daniela Stringl empfiehlt Ohropax oder U-Bahn-Abstinenz.

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Dreißig Jahre lang wurden Wiener U-Bahnzüge, wie es die Bahnsteigsprecher bisweilen poetisch ausdrückten, "mit den Worten 'Zug fährt ab!'" abgefertigt, seit 2. Oktober 2010 sagt die Konservenradiostimme Martina Rupps "Zurückbleiben, bitte!"

Warum? Das Verb gehört in seiner Imperativ-Form weder zum österreichischen noch zum Wiener Wortschatz. Was kann es? Weshalb ist eine Botschaft, die jahrzehntelang gut genug war, plötzlich nicht mehr gut genug?

Des Rätsels Lösung: Ein sogenannter Sicherheitsexperte hat empfohlen, den Appell an die Fahrgäste mit einer deutlichen Handlungsaufforderung zu verbinden.

Ja, richtig, welcher Fahrgast bezieht die Meldung "Zug fährt ab" schon auf sich? Die schlichte Information, dass der Zug abfährt, gibt ja noch keinerlei Hinweis darauf, dass es vielleicht unklug wäre, ihn aufzuhalten oder sich zwischen die sich schließenden Türen zu werfen.

"Zurückbleiben, bitte" ist insofern eine überflüssige Aufforderung, als Verkehrsbetreiber ihre Kunden schon längst behandeln, als wären sie zurückgeblieben. Offenbar geht man davon aus, dass der Benutzer des öffentlichen Verkehrs zusehends dümmer wird. Wie sonst wäre es zu erklären, dass die ÖBB ihr menschliches Transportgut seit einiger Zeit mit dem Spruch "Ausstieg in Fahrtrichtung links" zu Tode informieren. Es fehlt nur noch der Zusatz "und links ist, wo der Daumen rechts ist". So wird Höflichkeit zu einer Form von Verhöhnung.

Expertenblödheit und Beamtendickfelligkeit vermählen sich gern zu zäher Sinnlosigkeit. "Zurückbleiben, bitte" ist freilich keine Erfindung der neuerungsgeilen Wiener Linien, sondern, was die Sache erst recht ärgerlich macht (auch wenn es bei Rupp weniger ruppig klingt), der angestammte Spruch der Berliner Verkehrsbetriebe. In einer Zeit, da die Welt sich selbst allenthalben ähnlicher wird, pflegen Städte - und Verkehrsunternehmen - gemeinhin das, was sie unverwechselbar macht. Dazu gehört auch das akustische Mobiliar einer Stadt.

Der öffentliche Verkehr in Wien und seine Sicherheit sind etwas, worauf diese Stadt seit Jahrzehnten zu Recht stolz ist. Welchen Grund haben die Verantwortlichen, just vor der Gemeinderatswahl mit großer symbolischer Geste ihren Minderwertigkeitskomplex auszustellen? Sie sind doch sonst nicht auf den Volksmund gefallen. Man denke an die bürokratische Adelung von Juxbezeichnungen wie "Monte Laa" oder "Copa Kagrana". Und welchen Grund haben die Lokalpatrioten der Wiener Verkehrsbetriebe, die eigene "Marke" zu verraten und Sprüche in Berlin zu fladern?

Vor einigen Jahren schon haben die Wiener Linien begonnen, die hierorts gut eingeführte "Schnellbahn", ohne phonetischen Zeitgewinn, in "S-Bahn" umzubenennen, auch das ein unnötiger Kotau vor der deutschen Hauptstadt, von dem man sich wohl ein intensiveres Großstadtfeeling verspricht.

Voll im Trend

Das obrigkeitliche Anlehnungsbedürfnis an bundesdeutsche Sprachregelungen hat zuletzt überhaupt deutlich zugenommen. Noch vor zwanzig Jahren wäre es undenkbar gewesen, eine neugegründete österreichische Behörde nach deutschem Vorbild "Bundeskriminalamt" zu taufen oder das traditionelle "Wachzimmer" in die nachbarliche "Polizeiinspektion" umzubenennen.

Dass ihnen jede sprachliche Sensibilität abginge, kann man den Wiener Linien allerdings nicht vorwerfen, denn die Variante "Bitte zurücktreten" haben sie in Vorwahlzeiten doch lieber verworfen.

Möglich gewesen wäre auch die Durchsage "Bitte nicht mehr einsteigen!" oder "Achtung, Zug fährt ab!", aber, stimmt, da hätte wieder niemand gewusst, worauf er denn eigentlich achtgeben soll. Gerade Kinder und Halbstarke werden sich von "Zurückbleiben, bitte" nun gewiss auf ganz andere Weise angesprochen und moralisch verpflichtet fühlen.

Allen in puncto Sprachidentität allzu zartbesaiteten Wienerinnen und Wienern kann man nur U-Bahn-Abstinenz oder Ohropax empfehlen, wollen sie sich künftig nicht täglich zigmal ärgern müssen. Womöglich dreißig Jahre lang. Mag schon sein: Wien ist anders. Aber es hält das nicht wirklich aus. (Daniela Strigl, DER STANDARD-Printausgabe, 9./10. 10. 2010)