Braucht es das? Einen umfangreichen Sammelband mit in sieben Rubriken aufgeteilten 33 Essays über so etwas Altmodisches wie - das Buch? Und das auch noch in gedruckter, also Regalplatz raubender, Staub anziehender Form? Dabei diskutiert doch die Verlagsbranche derzeit über ganz anderes, wie jüngst auf der Fachkonferenz Buch Digitale 2010: E-Books, Verlage als Apps-Dienstleister, die Ablösung des herkömmlichen Wissenschafts- und Lehrbuchs durch IT-Lösungen mit integrierten Video- und Audiochannels. Mit solcher Update-Versatilität kann kein auf Gutenbergs Prinzipien fußendes Werk mithalten. Stirbt das Buch also nun endgültig aus?
Das lässt sich vielleicht nur seitenweise herausfinden. Oder in Seitenweise. Die Herausgeber des gleichnamigen Bandes, Thomas Eder, Ex-Standard-Redakteur Samo Kobenter und Peter Plener, allesamt ausgewiesene Germanisten und Mitarbeiter des Bundespressedienstes, gewannen Beiträger von vielen Planeten aus der (österreichischen) Gutenberg-Galaxis: Redakteure, Archivare, Bibliothekare, Historiker, Kritiker, Literaturwissenschafter und Museumsdirektorinnen (wobei das Porträt des schönen Deutschen Buch- und Schriftmuseums in Leipzig arg beweihräuchernd ausgefallen ist). Benedikt Föger tritt auf in seiner Funktion als Vorsitzender des Österreichischen Verlegerverbandes und schreibt deshalb nur über die Lage und juridische Schieflage des Bücher-Digitalisierens.
Missraten muten die sehr früh in den Sammelband eingearbeiteten Ausführungen des Designers Walter Bohatsch über den "Inhaltsraum Buch" an. Ist doch sein schwergängiger Beitrag sprachlich verquollen, mutet vom normalen Gestalter-Alltag abgehoben an, und es wird nie ganz klar, wovon in seinen langen Satzketten die Rede ist. Von Künstlerbüchern in Kleinstauflagen, bei denen der weiße Raum der Seiten unbedrängt von Zwängen zu füllen ist? Vom Alltag der Hersteller, der technisch-gestalterischen Betreuer, in marktorientierten Verlagshäusern jedenfalls nicht. Dafür entschädigt zwanzig Seiten weiter Michael Rohrwassers amüsantes Lexikon der besonderen Arten, wie ein Buch auch zu verwenden ist: als Hammer, Insektentod, Tapetenersatz oder Briefbeschwerer (siehe auch Spalte rechts). Manchmal kann es Leben retten - bei Heinrich Steinfests Kommissar Lukastik in einem Buch, bei H. C. Artmann ganz handgreiflich. Lenkte doch 1941 ein Langenscheidt-Lexikon in der Brusttasche eine Weltkriegskugel von seinem Herzen ab.
"Wie ein Bach in den Händen"
Der schönste Text stammt von der Schriftstellerin Gundi Feyrer: "Man kann ein Buch wie einen Bach in die Hände nehmen", den man sich fast als Sonderdruck zum Ausliegen in Buchhandlungen erbitten möchte. Ansonsten finden sich neben einem Aufsatz über den angeblichen Buchmörder Tinius sentimentalische, aber erstaunlich unsentimentale Reminiszenzen an erste wichtige Bücherentdeckungen, beispielsweise an auf grünes Papier gedruckte Erzählungen H. P. Lovecrafts. Eva Pfisterer beschreibt ergreifend, wie das Buch eine Leiter sein kann, um sozial aufzusteigen. Die Wiener Buchhändlerin Rotraut Schöberl breitet intensiveres, weil gelebtes "Bücherleben" aus.
Weiß sie schon, dass der gleich darauf folgende Aufsatz Wolfgang Pennwiesers laut Untertitel das Buch als "Instrument für die Arbeit am psychopathologischen Befund" porträtiert? Der Psychotherapeut zitiert die Aussage eines schwerst depressiven Patienten: "Wenn ich wieder lesen kann, weiß ich, dass ich wieder gesund bin." Im Gegenzug antwortete eine Medizinalkollegin auf die Frage, was das Buch für sie sei: ein Mittel gegen Schokoladegenuss.
Der viele Seiten ausleuchtende, so vielgesichtige wie gewichtige Band unterstreicht als Buchobjekt mit seiner prächtigen Ausstattung, dass die Kunst, schöne Bücher herauszugeben, keineswegs in Vergessenheit geraten ist: ein angenehmes Format, Halbleinen, dessen Dunkelanthrazit fein auf das helle Grau der Buchbinderpappe abgestimmt ist, eine klug ausgewählte Typografie mit einem überlegten Satzspiegel, eine ausreichend breite Marginalspalte mit eingerückten Abbildungen, ein elegantes hellgraues Vor- und Nachsatzpapier, den Augen wohlgesonnenes, da leicht gelbliches, nicht billiges Papier, alles exzellent Korrektur gelesen, gut gedruckt und haltbar fadengeheftet. Und dazu noch ein extra Lesebändchen. Es gehört keine prophetische Gabe dazu, um vorherzusagen, dass dieses Buch demnächst beim Wettbewerb um die schönsten Bücher Österreichs zum innersten Kandidatenkreis gehören wird.
Eine schöne Koinzidenz ist, dass nun auch ein Band erschienen ist mit einem langen Gespräch zwischen dem französischen Drehbuchautor und langjährigen Direktor der Pariser Hochschule für Film und Audiovision, Jean-Claude Carrière, und Umberto Eco, dem italienischen Bestsellerautor, Professor, Essayisten, Kolumnisten und Büchersammler. Moderiert wurde das Gespräch der beiden Endsiebziger vom Journalisten Jean-Philippe de Tonnac. Und wie das so manche Konversation über Bande an sich hat: Die beiden Bücherliebhaber repetieren manches, was man von ihnen bereits kennt, es gibt, da de Tonnac nur wenig eingreift und bei manchem auch gar nicht nachhakt, einige Schleifen und Abschweifungen, die das eigentliche Thema schön verfehlen.
Erhellend wird es dann, wenn die beiden über Leseexzesse ins Erzählen kommen und über Bücher, die man gelesen haben muss, aber doch nie liest, weil man sie eh schon zu kennen meint. Beide glauben an das gedruckte Medium. Carrière: "Wenn wir je geglaubt hatten, wir seien in eine Kultur des Bildes eingetreten, so führt uns der Computer wieder zurück in die Ära Gutenberg."
Auch manches amüsant Kuriose erfährt man hier, etwa über die Ambivalenz der Überlieferung. So soll die Pariser Bibliothèque nationale ungefähr zwei Millionen Bände ihr Eigen zählen, die seit ihren Anfängen im 17. Jahrhundert kein einziges Mal von den Benutzern verlangt worden sind. Auch wenn der Franzose Jahrgang 1931 ist und der Italiener ein Jahr jünger - sie verweigern sich nicht dem technologischen Fortschritt, setzen aber dem haltlos enthusiastischen Technikgebrauch scharfe Einsichten entgegen.
"Jedes technische Gerät", sagt Carrière, "erfordert langwieriges Erlernen einer neuen Sprache, ein umso langwierigeres, je mehr wir geistig durch den Gebrauch der bisher gewohnten Sprachen geprägt sind. In den Jahren 1903 bis 1905 etwa bildet sich die neue Sprache des Films heraus, die man unbedingt kennen muss. Viele Schriftsteller glauben, sie könnten einfach so vom Roman zum Drehbuchschreiben wechseln. Sie täuschen sich. Sie sehen nicht, dass diese beiden geschriebenen Objekte - Roman und Drehbuch - in Wirklichkeit zwei verschiedene Schreibweisen verwenden." Was er gleich zu Anfang erwähnt: Lose Originaldrehbücher, jene Fritz Langs etwa mit eigenhändigen Korrekturen, sind heute begehrte Sammlerobjekte. Werden für viel Geld gekauft. Dann aufwändig gebunden. Und werden so, seitenweise, zum Buch. (Alexander Kluy / DER STANDARD, Printausgabe, 9./10.10.2010)