China verstehen: Der Blockbuster Aftershock.

Foto: Aftershock

Die diplomatischen Irritationen, die der Friedensnobelpreis an den chinesischen Dissidenten Liu Xiaobo mit sich gebracht hat, haben der internationalen Gemeinschaft wieder stärker ins Bewusstsein gerufen, dass die Volksrepublik China ihre Entwicklung nach eigenen Gesetzen vorantreiben möchte. Das ganze Selbstbewusstsein, das diesen Sonderweg bestimmt, kommt in einem aktuellen Film zum Ausdruck, der nicht nur durch seinen phänomenalen Erfolg von Interesse ist, sondern vor allem durch seine anschlussfähige Form: "Aftershock" (Tangshan dadizhen, 2010) von Feng Xiaogang erzählt eine Geschichte, die von dem Erdbeben in der Großstadt Tangshan im Jahr 1976 ihren Ausgangspunkt nimmt. Es ist zugleich das Todesjahr des großen Vorsitzenden Mao, und aus dem Zusammentreffen dieser beiden Ereignisse entwickelt sich hier das moderne China, veranschaulicht in einer bewegenden, weit verzweigten Familiengeschichte.

Im Mittelpunkt steht die Mutter Yuan Ni, die in den chaotischen ersten Minuten nach dem Beben vor einer entsetzlichen Entscheidung steht. Ihre beiden Kinder liegen so unter den Trümmern begraben, dass nur eines der beiden (um den Preis des Lebens des anderen) gerettet werden kann. Sie entscheidet sich schließlich unter höchstem Druck für den Jungen (dass das Mädchen doch noch gerettet und quasi von der Volksbefreiungsarmee adoptiert wird, kriegt sie nicht mit). Dieser Moment einer unzumutbaren Entscheidung, die einem das Schicksal aber doch zumutet, ist natürlich ungeheuer aufgeladen im Hinblick auf die moderne chinesische Geschichte. Einerseits steckt dahinter die rigide Einkindpolitik, die lange Zeit verordnet wurde, andererseits ist die Entscheidung der Mutter eine auf die Natur verschobene Anerkennung der Opfer im revolutionären Prozess. Das offizielle China, für das Aftershock durchaus offiziös spricht, räumt hier indirekt ein, dass es in der Volksrepublik traumatische Erfahrungen gab, die aber in dem nach 1976 eingeleiteten Prozess der Modernisierung allmählich überwunden werden.

Ich muss hier nicht im Detail nacherzählen, wie die beiden getrennten Geschwister durch ihr Leben gehen, wie die Mutter zu einer der ersten erfolgreichen Privat- und Kleinunternehmerinnen des kommunistischen Landes wird, wie der Sohn nach Shenzhen geht, etc. Wichtig ist nur, dass dies alles einem Geschichtsentwurf angehört, der die losen Enden nicht nur der familiären Geschichte zusammenführt, sondern der nationalen. Aftershock ist der erste mir bekannte chinesische Mainstreamfilm, der mit dieser großen Geste nicht nur auf das Allgemeine der chinesischen Sache zielt, sondern auf die Definition eines verbindlichen Gemeinwesens mit globalem Anspruch.

Deswegen die Form eines klassischen ("amerikanischen") Filmepos, das syntaktisch auf maximale Zugänglichkeit setzt, semantisch aber in jedem konkreten Bild ganz und gar chinesisch durchwirkt ist. Das beginnt damit, wie die Wohnquartiere dargestellt werden (vom human dimensionierten Gemeinschaftsbau zu Beginn bis zum venezianisch inspirierten Condominiumskomplex gegen Ende), das zeigt sich auch darin, wie buddhistische Elemente und sogar traditionelle Geistervorstellungen integriert werden ("Aftershock" bereinigt damit auch die Kulturrevolution), und das läuft alles zusammen in einer Kamerafahrt durch das eine Generation später wieder aufgebaute, idealisierte Tangshan, wo sich an der Stelle, an der einst die Kernfamilie lebte, ein grandioser Department Store befindet, der hier tatsächlich wie das Ziel der Geschichte präsentiert wird. Wer das China von heute verstehen möchte, wird um "Aftershock" nicht herumkommen. Hier der Trailer (die ganz Unerschrockenen werden sogar den ganzen Film bei Youtube finden):