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Die Frau des Nobelpreisträgers Liu Xiaobo, Liu Xia über die chinesische Regierung zum Standard: "Sie haben diese Lage verursacht und müssen die Lösung verantworten."

Foto: AP/Andy Wong

Der Anruf des Standard erreicht Liu Xia, die Frau des neugewählten Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo, im Polizeiwagen. Die Zivilbeamten machen keine Anstalten, das Gespräch zu unterbrechen. "Ich stehe weiter unter Hausarrest, darf keine Journalisten treffen und kann nur in Begleitung der Polizei einkaufen gehen." Sie fahre gerade zum Gemüseeinkauf, sagt die 49-Jährige. Seit Montagabend verfügt Liu Xia wieder über ein Mobiltelefon, nachdem ihre alte Nummer abgeschaltet wurde. Mit der neuen Nummer darf sie weiter telefonieren. Sie geht auch noch eine Stunde später ans Telefon, als sie wieder in ihrem Wohnblock zu Hause ist, vor dem ein halbes Dutzend Polizeiaufpasser stehen und niemanden zu ihr durchlassen.

Am Sonntag hat sie ihren Mann im 470 Kilometer entfernten Gefängnis besuchen dürfen, erzählt sie. Ihr einstündiges Gespräch verlief unter Freudentränen über die Auszeichnung. Es ist ein Preis für seinen 20-jährigen gewaltlosen Einsatz für die Demokratisierung Chinas. Der 54-jährige Liu Xiaobo sagte seiner Frau, dass dieser Preis den "Seelen der Opfer" des Pekinger Massakers vom 4. Juni 1989 gehört und ihnen gewidmet ist. Der als Verfasser des Freiheitsaufrufs "Charta 08" vergangenen Dezember zu elf Jahren Haft verurteilte Bürgerrechtler bat sie auch, an seiner Stelle nach Oslo zu fahren, um den Nobelpreis am 10. Dezember entgegenzunehmen. Sie sagt dazu: "Ich möchte natürlich nach Oslo fahren. Aber das wird wahrscheinlich unmöglich sein."

Überwältigt vom Zuspruch

Die Schikanen, die sie seit Freitag erlebt hat, kümmern sie nicht: "Es ist nicht das erste Mal, dass ich das mitmache". Überwältigt sei sie jedoch von dem Zuspruch, den ihr Mann erfährt: Am Montagabend ruft ein Pekinger Sprecher der EU an. Sie hört, dass Präsident José Manuel Barroso und Catherine Ashton zum Nobelpreis gratuliert haben. Sie weiß auch von einem Schreiben des deutschen Bundespräsidenten, kennt aber noch nicht den Inhalt. Sie wolle sich bei allen bedanken, die an ihren Mann denken.

Auf die Frage, wie sie ihre Zukunft sieht, meint sie, dass die Lage, "in der wir uns jetzt befinden, nicht lange so anhalten kann". Ein paar kleine Anzeichen gebe es dafür. Beim Besuch im Gefängnis hörte sie von ihrem magenkranken Mann, dass er von der Bekanntgabe des Preises schon vor ihrem Besuch erfahren hat. Er sei dann sofort besser behandelt worden. Er habe einen Elektroofen zugestellt bekommen, um sich seine Speisen aufzuwärmen, und das Essen sei auch besser geworden. Beim Abschied sagt ihr die Gefängnisverwaltung, dass sie weiter normales Besuchsrecht habe. Liu Xia hofft, dass eine "vernünftig und rational handelnde Regierung" sich bewusst werden wird, wie kontraproduktiv ihre Reaktion bisher sei. "Sie haben diese Lage verursacht und müssen die Lösung verantworten. Sie werden die Realitäten über kurz oder lang akzeptieren."

Wohl eher "über lang". Am Dienstagabend ist Liu Xias neue Telefonnummer nach nur 20 Stunden Betrieb plötzlich wieder tot. Eine Tonbandstimme sagt: "Abgestellt." Peking denkt vorerst nicht daran, Liu Xiaobo oder seine Frau nach Oslo reisen und den Preis entgegennehmen zu lassen. Der Sprecher des Außenministeriums, Ma Zhaoxu, weist am Dienstagnachmittag bei seiner Routinepressekonferenz in Peking jedes derartige Ansinnen brüsk zurück: Die Vergabe des Friedenspreises an einen verurteilten Häftling zeige die "Respektlosigkeit des Nobelpreiskomitees gegenüber Chinas Rechtsprechung".

Auf die Frage eines Journalisten, ob Peking Liu Xia, die ja nicht straffällig geworden sei, nun nach Oslo reisen lasse, sagt Ma: "Ich kenne diese Person nicht." Weitere Nachfragen blockt er ab. Er rechtfertigt auch Chinas Zorn auf Norwegen für die Entscheidung des Nobelpreiskomitees: "Die norwegische Regierung hat die falschen Handlungen des Komitees unterstützt und damit die bilateralen Beziehungen verletzt. China und seine Bevölkerung haben Grund, ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen."

Antichinesische Ziele

Ma weicht Fragen aus, ob sich China nun auch gegen die USA und alle anderen Staaten wende, die Liu Xiaobo gratuliert haben. "Wenn jemand auf diese Weise Chinas politisches System ändern will oder China daran hindern will, voranzuschreiten, dann hat er sich verrechnet." Er verweist auf einen Kommentar aus Pekings scharfmacherischer Zeitung Global Times: "Lesen Sie diesen Leitartikel vom 9. Oktober". In ihm wird in rüder Polemik unterstellt, dass der Friedensnobelpreis "zu einem politischen Werkzeug verkommen ist, um antichinesischen Zielen zu dienen".

Die Global Times, die als einzige Zeitung die Vorgänge kommentieren darf, setzt auch am Dienstag ihre Angriffe fort. Mit der Auszeichnung eines Kriminellen wolle es Chinas Justizsystem zerstören, um das Land zu destabilisieren und Dissidenten gegen das Rechtssystem aufhetzen. Das Komitee sollte sich dafür schämen. (Johnny Erling aus Peking/DER STANDARD, Printausgabe, 13.10.2010)