Wien - "Ein Restrisiko bleibt", sagt Matthias Mayr, und er sagt es so sachlich und nüchtern, wie es auch andere Extremsportler wie Bergsteiger, Freestyle-Motocrosser oder Basejumper sagen würden. Wie das Restrisiko im Falle eines Freeskiers aussehen kann, hat Mayr am 20. Jänner 2010 erfahren. Fotoaufnahmen am Dachstein sind für den 29-jährigen Niederösterreicher am Programm gestanden. Unter einem blitzblauen Himmel warteten auf fast 3000 Metern unberührte weiße Hänge. Es wurde hinaufgestapft, der Fotograf schaute sich weiter unten um, es galt, die bestmögliche Position für spektakuläre Fotos zu finden.

Bevor es in die vierzig bis fünfzig Grad steile Abfahrt gehen konnte, musste Matthias Mayr den Hang noch schnell unter einem gefährlichen Grat queren. "Da habe ich gesehen, dass der Fotograf in einer Lawinen-Gefahrenzone gestanden ist. Ich musste stehenbleiben, habe sofort runtergeschrien, dass er verschwinden soll", erzählt er. Wenig später hatte sich vom Grat eine Lawine gelöst. Mayr, der nicht stehenbleiben hätte dürfen, konnte sich nicht mehr in Sicherheit bringen. "Da habe ich zum ersten Mal das Gefühl gehabt, dass ich jetzt sterben könnte."

Mayr hatte Glück, die Lawine verschluckte ihn nicht, er konnte sich selbst befreien. Angst, sagt er, habe er keine verspürt, wohl aber das Adrenalin in seinem Blut. "Angst ist nur, wie du selbst die Stresssituation bewertest. Die Ausschüttung von Adrenalin hilft nur, den Körper zu aktivieren."

Matthias Mayr lebt quasi vom Adrenalin in seinem Körper. Der Extremsportler aus Dross in der Nähe von Krems gibt sich Tiefschnee-Hänge, die so steil sind, dass manche alleine schon beim Ansehen seiner Fotos und Videos Schwindelgefühle bekommen. Bis zum 30-Fachen des Normalwertes steigt der Adrenalinspiegel im Blut beim Freeriden an, so hoch wie bei keiner anderen Sportart, erzählt Mayr. Er weiß, wovon er spricht, die Werte hat der Sportstudent im Rahmen seiner Dissertation schließlich selbst bei Freeski-Profis ermittelt.

Übrigens auch bei sich selbst. "Meine Berufsbezeichnung ist Freeskier", sagt er. Sponsoren haben es dem Sohn eines Skilehrers ermöglicht, sein einstiges Hobby zum Beruf zu machen. Das Überraschende daran: Red Bull ist nicht darunter. Das Skurrile daran: Sein Hauptunterstützer ist Almdudler. "Die mischen sich in meine Projekte nicht ein."

Mayrs Projekte sind neben Foto-Shootings für Sponsoren Freeski-Filme, die er selbst entwickelt und von einem ausgesuchten Team drehen lässt. "Ich will keine Pornos machen", sagt er - darunter versteht er Filme, die nur die spektakulärsten Sprünge und die halsbrecherischsten Stürze zum Inhalt haben. "Ich will Themen verarbeiten. Mehr Themen als nur Freiheit."

Vor drei Jahren machte er mit Feel Adrenaline sein Dissertationsthema zum Inhalt, 2009 befuhr er für Fire and Ice den Villarrica in Chile, einen der aktivsten Vulkane der Welt. Sein aktuelles Werk, das er mit Freeski-Profi Matthias Haunholder realisierte, heißt Up and Down, wo er nicht nur das Hinunter-, sondern auch das Hinaufkommen in den Mittelpunkt stellt.

Die unberührten Hänge im heimischen Salzburger Land, etwa am Kitzsteinhorn, wurden mit Liften und Fußmärschen erreicht. In Nordschweden waren Skidoos hilfreich, in Kanada natürlich Helikopter. In der Schweiz ist man mit einer Pilatus Porter, einer alten Einpropellermaschine, auf 3600 Metern Höhe auf einem Gletscher gelandet. Neben Mayr und Haunholder war unter anderen auch der Ski-Basejumper Matthias Giraud dabei. Der bald 27-jährige Franzose sprang mit Skiern und Fallschirm als erster Europäer die Eiger-Nordwand hinunter - kopfüber.

Neunzig Tage im Jahr, davon ein paar Wochen für Dreharbeiten, verbringt Mayr auf Schnee. Die übrige Zeit geht für die minutiöse Planung der Projekte drauf, Lawinengefahren müssen abgecheckt werden, die Wetterberichte müssen stimmen, die Filmcrew muss ausgesucht werden.

Auch die Vermarktung des Films obliegt Mayr und Haunholder. Die nächsten Wochen und Monate touren sie in Eigenregie durch Österreich und halb Europa, um ihren Film zu promoten. "Wir sind ein recht gutes Gesamtkonzept", sagt Mayr, der auch Teammanager im Freeride-Team seines Skisponsors Elan ist. "Verdienen können wir freilich nicht viel, weil wir für einen guten Film bei unserem Gehalt die meisten Abstriche machen. Dafür haben die Sponsoren schon bemerkt, dass wir mehr können als nur Skifahren. Einige warten nur drauf, dass wir aufhören, damit sie uns richtig anstellen können."

Einstweilen können sie sich das abschminken, ein nächstes Projekt mit Filmaufnahmen in Alaska ist für 2011 bereits geplant. Auch im Mekka des Freeridens gilt die Suche nach Abfahrten, die "möglichst schnell, möglichst flüssig, möglichst spektakulär" aussehen sollen. "Bei den Sprüngen geht's übrigens ab fünf Metern Höhe los. Mayr: "Alles darunter würde ich nicht als Sprung bezeichnen." (David Krutzler, DER STANDARD, Printausgabe, Montag, 18. Oktober 2010)