Foto: Kein & Aber
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Mit dem Entschluss, "eine weitere Iranerin in Zürich zu werden", landet die achtunddreißigjährige Graphikerin aus Teheran in der Zürcher Nylonstraße, um sich ein neues Leben aufzubauen. Statt jedoch an ihrer Zukunft zu basteln, wird sie von ihrer Vergangenheit eingeholt. Und das auf eine drastische Weise: Eines Tages sieht sich die Protagonistin mit einem sechsjährigen Mädchen in ihrem Badezimmer konfrontiert. Ihr Nervenkostüm ist durch den schwierigen Alltag in einem fremden Land erheblich angegriffen, und die Halluzination wirft sie vollends aus der Bahn. Dennoch lässt sie sich auf ein Gespräch mit dem kleinen Mädchen ein, das niemand anderer als sie selbst vor zweiunddreißig Jahren ist.

Ein Mensch, viele Ichs

Damit tritt die Ich-Erzählerin, alter ego der Buchautorin Parsua Bashi, eine Reise in ihre Vergangenheit an und lässt alle ihre Ichs zu Wort kommen: Das unbeschwerte Kind gutsituierter und liberaler Eltern, die halbwüchsige glühende Kommunistin, die Kunststudentin im Iran der Achtziger Jahre, die erfolgreiche Inhaberin eines Grafikstudios im Teheran, usw. Jedes Ich hat wiederum viele Facetten und ist zwischen Wünschen, Sehnsüchten und Ängsten zerrissen; mal will die junge Frau um jeden Preis dem repressiven iranischen Regime entkommen und in Freiheit leben, mal will sie aus Trotz und Heimatverbundenheit bleiben und den Mullahs Paroli bieten.

Eine große Wunde will auch in Zürich nicht verheilen, nämlich die Trennung von ihrer Tochter. Weil die iranische Gesellschaft uneheliche Beziehungen zwischen Männern und Frauen und nicht toleriert, heiratet die Ich-Erzählerin mit dreiundzwanzig überstürzt ihren Arbeitskollegen, einen scheinbar liberalen und vielseitigen Künstler. Der nunmehrige Ehemann entpuppte sich bald als konservativ und pathologisch eifersüchtig, und nach der Scheidung erhält er nach der iranischen Rechtsprechung das volle Sorgerecht für die gemeinsame kleine Tochter. Trennungsschmerz, Schuldgefühle und die gesellschaftliche Ächtung stürzen die Ich-Erzählerin in eine profunde Krise, die sie erst überwindet, als sie begreift, dass ihr niemand helfen kann und sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen muss.

Keine Schwarz-Weiß-Malerei

Einige Episoden, wie etwa die Auspeitschung durch ein islamisches Gericht oder auch nur der Alltag in einem diktatorisch regierten Land, sind gelinde gesagt erschütternd. Dennoch liest sich die graphische Novelle dank der selbstironischen und unprätentiösen Erzählweise durchgehend mit Genuss. Schwarz-Weiß-Malerei ist für die Erzählerin und Graphikerin Bashi keine Option, weder formal noch inhaltlich.

"Nylon Road" ist das beeindruckende Zeugnis eines Reifungsprozesses, so lang, beschwerlich und verzweigt wie die legendäre Seidenstraße. Am Ende ist nicht alles gut, aber die Protagonistin - Iranerin, Migrantin, Weltbürgerin, Künstlerin, Patriotin, Mutter, Feministin,- schafft es zumindest in Ansätzen, sich mit ihrer Vergangenheit auszusöhnen und wieder in der Gegenwart anzukommen.