Für Barbara Kolm, Generalsekretärin des wirtschaftsliberalen Wiener Hayek-Instituts liegt die Ursache der Krise weniger im Versagen der Märkte als im Versagen der Staaten. Im Gespräch mit derStandard.at erklärt Kolm, warum Regulierung die Menschen "in ein Korsett" presst, auch Banken oder Staaten pleite gehen können sollen, warum die Zeit der Politik des "Durchwurschtelns" vorbei ist und sich Europa nicht mehr an den USA orientieren sollte.

derStandard.at: "Free markets, free people" lautet der Slogan auf Ihrer Homepage. Gerade die freien Märkte standen aber im Zuge der Krise im Kreuzfeuer der Kritik, der eine oder andere hat den Kapitalismus gar für tot erklärt. Was halten Sie dem entgegen?

Barbara Kolm: Erstens ist die Form des Kapitalismus, die wir vertreten, sicher nicht tot. Das zweite ist, dass viele Staatsversagen mit Marktversagen verwechseln und die Ursachen, die zu dieser Krise geführt haben, schlichtweg nicht erkennen respektive erkennen und zum Teil eben auch nicht wahrhaben wollen.

derStandard.at: Was sind für Sie die Ursachen?

Kolm: Die Ursachen der Krise, die wir jetzt spüren, die ursprünglich mit der Finanzmarktkrise aus den USA nach Europa gekommen ist, sind: Nummer eins das Easy Money, also die Geldproduktionspolitik der Fed. Nummer zwei natürlich in Folge die Niedrigzinspolitik, die zu Problemen geführt hat. Und Nummer drei die Politik am Immobilienmarkt – Fannie Mae und Freddie Mac, die auf Initiative der Politik gegründet worden sind, um Kredite für jene Menschen herzugeben, die es sich eigentlich niemals leisten könnten, Häuser zu besitzen. Damit ist eine Umverteilungsmaschinerie in Bewegung gesetzt worden, die von der damaligen Clinton-Administration gewollt war. Aufgrund dieser falsch gesetzten Incentives einerseits, falscher politischer Kontrollmaßnahmen andererseits und einer Regulierung für diese Kredite, die in die falsche Richtung gegangen ist, ist diese Krise entstanden und hat dann auch auf andere Märkte übergegriffen.

derStandard.at: Von welcher Form von Regulierung sprechen wir? Gerade Regulierung steht ja nicht unbedingt an erster Stelle Ihrer Wunschliste.

Kolm: Die Finanzmärkte waren stark reguliert. Durch kreative Finanzleute sind diese Regeln einfach durchbrochen worden, bzw. man hat sich daran vorbeigeschleust. Wenn die Rahmenbedingungen nicht so eng gewesen, die Menschen nicht ins Korsett gepresst worden wären, die Aufsicht und die Kontrolle besser funktioniert hätten, dann hätte man sich in dem breiteren Rahmen durchaus gut bewegen können, ohne auf solche Ideen zu kommen. Auch hat sich im Verlauf der Krise gezeigt, dass die Aufsicht nicht imstande war die Einhaltung bestehender Regeln sicherzustellen, wie der Fall Madoff in den USA eindrucksvoll aufgezeigt hat.

derStandard.at: Helfen dann die Maßnahmen, die jetzt zur Regulierung der Finanzmärkte ergriffen werden?

Kolm: Was die jetzigen Regulierungsmaßnahmen betrifft, ist das wieder ein Schuss, der nach hinten los geht. Diese Maßnahmen tragen nicht dazu bei, dass sich Unternehmen und die Finanzindustrie frei bewegen und Wachstum generieren können. Diese überbordende Kontrolle führt einfach zu nichts. Wir hatten sie vorher, und man hat die aufkommenden Probleme dennoch übersehen. Das geben mittlerweile auch die Amerikaner zu, und wir Europäer verfallen hoffentlich nicht wieder in die alten Fehler, den Amerikanern – zum Beispiel Basel II – überallhin zu folgen. Europa sollte endlich andere Wege gehen und sich nicht unbedingt an den USA orientieren. Amerika steht am Abgrund, die haben Angst. Die massive Staatsverschuldung ist für die Amerikaner nicht mehr handlebar, man kann damit nicht umgehen. Wir müssen in Europa schauen, dass wir unsere Budgets konsolidieren und einen vernünftigen Sparkurs fahren, damit wir wieder wachsen können.

derStandard.at: Sehen Sie dabei Licht am Ende des Tunnels?

Kolm: Licht am Ende des Tunnels ist nur dann zu sehen, wenn die Politik mutige und unbequeme Maßnahmen ergreift. In Österreich sind die wichtigsten Stichworte ohnehin in den letzten Tagen gefallen: Privilegienabbau im Bereich Hacklerregelung, im Bereich Pensionsreform, usw. Das Durchschnittspensionsalter ist dem Lebensdurchschnittsalter nicht mehr angepasst. Wir müssen damit rechnen, dass wir länger arbeiten. Man kann halt nicht immer auf Kosten der anderen, auf Kosten der Steuerzahler im Wohlfahrtsstaat leben. Wir müssen alle mehr leisten, wir müssen alle mehr beitragen. Gerade durch die demografische Schieflage müssen die jetzige und die nächsten Generationen mehr leisten. Das ist zwar ungerecht, aber es sind Fakten, die man zur Kenntnis nehmen muss.

derStandard.at: Wenn wir schon beim Thema Sparen sind: Gerade die Konjunktur- und Bankenpakete, die europaweit geschnürt wurden, tragen ja nicht unwesentlich zu den Staatsschulden bei. Warum ließ man die Banken zum Beispiel nicht pleitegehen? Ist das nicht eigentlich der kapitalistische Selbstreinigungsprozess: Wer nicht bestehen kann, den bestraft der Markt?

Kolm: In den USA hat man nur Lehman pleite gehen lassen, und das geht nicht. Entweder lässt man alle untergehen oder rettet alle. Die Tatsache, dass einzelne amerikanische und auch europäische Banken eine Größe und Bedeutung erreicht hatten, die den Sanktionsmechanismus des Marktes dahingehend einschränkt, dass wirtschaftliche Fehleinschätzungen und mangelhaftes Management nicht nur die Kapitalgeber sondern in weiterer Folge auch den Steuerzahler belastet, scheint hier das eigentliche Problem zu sein. Diesen Fehler bezahlen die Amerikaner bitter und teuer. Noch viel schlimmer waren die Rettungsmaßnahmen für die Industrie. Dort wurde Geld in kaputte, nicht innovative Unternehmen gesteckt, die am Markt nicht bestanden haben, nur um Arbeitsplätze zu halten und um die Volksseele nicht zum Kochen zu bringen. Das Geld hätte man auch gleich anzünden können. Genau dasselbe gab es in Deutschland – jeder Deutsche zahlt pro Jahr 5.000 Euro für Opel, hat quasi zusätzlich noch einen virtuellen Zweitwagen vor der Garage stehen. Dieses ganze Opel-Paket hätte man sich auch sparen können.

derStandard.at: Womit wir gleich beim Griechenland-Hilfspaket angelangt wären?

Kolm: Wir haben uns auch damit Zeit gekauft, die Probleme sind aber nicht gelöst. Jedes Unternehmen, das am Markt vorbei produziert, wird damit bestraft, dass es in Konkurs geht und verschwindet. Oder es kommt mit etwas Neuem wieder an den Markt zurück. Die Griechen haben bis dato ihre Hausaufgaben im Bereich der Verwaltung, der Pensionsreform, des Bildungsbereichs nicht gemacht. Dann zahlen Staaten wie Österreich oder Deutschland und damit jeder einzelne Steuerzahler? Das bringt eine Schieflage, die Europa sehr schadet.

derStandard.at: Was hätte die EU Ihrer Ansicht nach tun sollen, anstatt Griechenland zu retten?

Kolm: Eine geordnete Insolvenz, wie sie vielfach in anderen Staaten auch passiert ist. Argentinien ist das beste Beispiel dafür. Die haben das durchgezogen, und stehen jetzt wieder normal da. Das ist natürlich eine Radikalkur, aber diese hätte Europa weniger gekostet.

derStandard.at: Mit dem Anlassfall Griechenland, aber auch anderen absturzgefährdeten EU-Kandidaten, gibt es ja auch Diskussionen über eine Teilung des Währungsraums. Was halten Sie von solchen Ideen?

Kolm: Wir haben nun einmal eine EU mit vielen Mitgliedsstaaten und dem Euro, der uns ja auch viel Gutes gebracht hat. Staaten wie Griechenland aus dem Euro auszuschließen oder einen Euro-Süd zu machen, ist wahrscheinlich die einfachere Variante, als aus dem Euro zu gehen. Es geht eigentlich darum, dass eine Währung unterlegt sein muss, damit sie etwas wert ist. Das Problem war, dass wir vom Gold-Standard weggegangen sind. Was auch immer wir tun, ob wir Gold oder ein anderes Edelmetall unterlegen, ist völlig egal. Aber man kann eben nicht das machen, was die USA gemacht haben, nämlich einfach Geld zu drucken. Die EZB war diesbezüglich sehr vorsichtig und vernünftig.

derStandard.at: Sehen Sie die Notwendigkeit einer globalen Währungsreform?

Kolm: Es besteht eine massive Notwendigkeit, die Schuldenpolitik zurückzufahren. Und wenn ich das tue, dann kann ich mir das andere sparen. Aber wenn ich auf der Ausgabenseite einfach unfähig bin, die richtigen Maßnahmen zu setzen, dann kann ich nur über Deflation das Problem lösen. Das ist aber langfristig nicht machbar, und dann brauche ich eine Währungsreform. Das wäre der nächste traurige Schritt. Oder man sagt eben: Okay, es reicht, wir ziehen uns aus dem Euro zurück und jeder geht zurück zu seiner nationalen Währung. Das scheint dzt. kontraproduktiv zu sein, weil wir damit jetzt schon die ganze EU in Frage stellen. Wichtigstes Ziel ist der Erhalt unserer Wettbewerbsfähigkeit. Europa ist sicher nicht wettbewerbsfähig mit den massiven Schuldenpaketen, die es sich selbst mit seinen Wohlfahrtsstaaten auf den Rücken geschnallt hat. Wir geben Geld aus, das wir nicht haben, und das ist unseriös. Jedes Unternehmen, jede Familie ist pleite, wenn Geld ausgegeben wird, das nicht da ist. Warum sieht man das bei Staaten nicht auch so?

derStandard.at: Die Schuldenreduktion funktioniert einerseits übers Sparen, andererseits über Steuererhöhungen.

Kolm: Zu Steuererhöhungen sage ich definitiv: Nein. Wir wissen aus Erfahrung, dass, wenn die Steuern gesenkt wurden, die Staatseinnahmen durchwegs gestiegen sind. Ob das Neuseeland war, Australien oder auch in mitteleuropäischen Staaten, es funktioniert. Mit neuen Steuern generiere ich sicher kein Wachstum, damit vertreibe ich nur diejenigen, die sie zahlen. Wir müssen die Staatsaufgaben in Frage stellen. Wir leben im 21. Jahrhundert und haben zum Teil Verwaltungsstrukturen des vorletzten Jahrhunderts. Die Rahmenbedingungen, die der Staat zu erhalten hat, sind die Rechtsstaatlichkeit, die Sicherheit. Mehr braucht es für eine funktionierende Wirtschaft und eine florierende Gesellschaft eigentlich nicht. Viele Dinge, die leider jetzt selbstverständlich zu Staatsaufgaben zählen – sei es das Pensionskassensystem, die Krankenkassen -, sind ineffizient und unwirtschaftlich.

derStandard.at: Sie legen damit sehr viel Vertrauen in die Gesellschaft. Das kann alles nur funktionieren, wenn sich Menschen ihre Regeln selber schaffen und sich vor allem auch daran halten. Ist es nicht das, woran es letztendlich scheitert?

Kolm: Wenn ich als Staat, die Möglichkeit schaffe, dass ich mir Geld ausleihen kann und es nicht zurückzahlen muss, dann hat die Verantwortung nicht der Bürger, sondern auch der Staat, weil er falsche Incentives gesetzt hat. Die Rahmenbedingungen, die Grundregeln muss der Staat bilden und sie müssen auch eingehalten werden. Aber trotzdem glaube ich, wir unterschätzen die Menschen, trauen ihnen zu wenig zu. Es wird immer Leute geben, denen man helfen muss, weil sie sich nicht selber helfen können. Dafür braucht man auch ein gewisses soziales Netz. Wir haben dadurch, dass wir uns auf den Staat verlassen haben, verlernt, dass wir uns selber um diejenigen kümmern, die unserer Hilfe bedürfen. Da müssen wir auch die Rolle der Familie noch einmal hinterfragen. Oder auch die Rolle der Philanthropie, die in Europa komplett untergegangen ist. Diese Dinge kommen über private Initiativen alle wieder und müssen auch intensiviert werden, weil es sich der Staat nicht mehr leisten kann.

derStandard.at: Sehen Sie da auch in der Krise eine Chance?

Kolm: Natürlich. Wir dürfen nur nicht die gleichen Fehler, wie zum Beispiel 1929, erneut machen, die das Problem nur prolongiert haben und im Endeffekt im Zweiten Weltkrieg endeten. Wenn wir mutige Maßnahmen in der Krise setzen für die Sanierung des Staatshaushaltes, dann haben wir alle Chancen. Und da meine ich neben dem massiven Sparen vor allem das Hinterfragen der Rolle des Staats.

derStandard.at: Sind Sie zuversichtlich für die Zukunft?

Kolm: Ja, denn die Fakten sprechen für sich. Wir sind an einer Grenze, wo es unvernünftig ist, wenn man mit dieser Politik des "Durchwurschtelns" weitermacht. Wir müssen einfach Farbe bekennen. Ich glaube auch, dass jetzt eine Politikergeneration dran ist, wie zum Beispiel in Großbritannien, die mit Ärmelaufkrempeln versucht, genau diese lösungsorientierte Form der Politik umzusetzen.

derStandard.at: Sind protektionistische Maßnahmen eine gute Methode, um die Wirtschaft im eigenen Land zu schützen?

Kolm: Wenn protektionistische Maßnahmen gesetzt werden, dann schadet man sich selbst. Die Australier hatten zum Beispiel eine Zeit lang ein höheres BIP pro Kopf als die USA, haben dann 1910, 1920 mit Protektionismus versucht ihre eigene Wirtschaft zu schützen, sind massiv geschrumpft und hatten große Probleme. Erst durch Rohstoff-Exporte konnten sie sich wieder sanieren. Auch den USA oder Europa droht dasselbe Schicksal, sollten sich protektionistische Maßnahmen wieder durchsetzten. Freier Handel ist die beste Voraussetzung für Wohlstand, Wirtschaftswachstum und damit auch für den Frieden.

derStandard.at: Das ist das Proargument für den Kapitalismus, er bringt Wohlstand für viele. Das Contra-Argument besagt aber, dass viele auf der Strecke bleiben. Was wiegt für Sie schwerer?

Kolm: Das ist schon sehr vereinfacht. Es gibt nun einmal leider immer die untersten zehn Prozent. Es haben nicht alle Menschen dieselben Voraussetzungen, das können wir auch mit Chancengleichheit nicht ausgleichen. Was wichtig ist, ist die Rechtsgleichheit. Das ist die eine Grundvoraussetzung für den Kapitalismus. Die andere ist die Möglichkeit, Eigentum zu schaffen, zu schützen. Das kann ich nicht in einem Hochsteuerland, das kann ich nicht in einem protektionistischen Staat und das kann ich auch nicht in einem überregulierenden Staat. Der Kapitalismus hat unbestritten mehr Menschen aus der Armut herausgeholt, er ist ein Wachstums- und ein Wohlstandstreiber. Nicht zuletzt weil er es Menschen und Regionen, die bereits ein höheres Wohlstandsniveau erreicht haben, ermöglicht sich auf Aktivitäten abseits der Produktion lebensnotwendiger Güter, nämlich auf Forschung und Entwicklung bestehender Technologien zu fokussieren, die letztlich allen Menschen zu Gute kommen. (Daniela Rom, derStandard.at, 27.10.2010)