Der blutige Konflikt wurde in ein Raster gepresst: X gefallene Soldaten, X getötete Aufständische, X Festgenommene, X tote Zivilisten. Der brutale Alltag im Irak, heruntergebrochen auf Formeln und Zahlen. 391.832 Dokumente zählt das neue vom Internetportal Wikileaks veröffentlichte Irak-Dossier, das den Zeitraum zwischen 1. Jänner 2004 und 31. Dezember 2009 umfasst. Das Ausmaß ist enorm, das Mediengewitter ebenso. Viel Krach um Enthüllungen, die diesen Namen nicht wirklich verdienen.

Ein rücksichtloses, willkürliches Vorgehen der US-Armee, tödliche Zwischenfälle an Kontrollpunkten, Misshandlung Gefangener, die Unterstützung der Schiiten-Milizen aus dem Iran. Die Dokumente zeigen auf, dass die US-Streitkräfte Folter und Misshandlungen von Irakern ignorierten, Vorwürfen nicht nachgingen, obwohl sie wussten, dass diese in irakischen Gefängnissen zur Tagesordnung gehörten.

Der Chef der Enthüllungsplattform, Julian Assange, begründete die Veröffentlichung damit, die „Attacken auf die Wahrheit" korrigieren zu wollen, die der Krieg im Zweistromland ausgelöst habe. Eine Mystifikation und Übertreibung, die die Erwartungen hochschrauben und die Bedeutung der eigenen Publikation anheben sollte. Die aber dem Inhalt des Materials nicht gerecht werden.

Die Dokumente bergen viel Information, sie zeichnen ein Gesamtbild der Gewalt und des Chaos im Irak. Ihre Erkenntnisse sind wichtig, aber neu sind sie nicht. Sie beinhalten "keine welterschütternden Enthüllungen", urteilt die New York Times. "Keine Überraschungen" weisen sie auch laut dem irakischen Innenministerium auf. Sie verdichten und erhärten viel mehr, wovon bisher nur Anhaltspunkte vorhanden waren. Sie wandeln angenommenes in definitives Wissen, sie bestätigen, was viele geahnt und einige gewusst haben.

Was die Papiere verstärkt ans Tageslicht bringen, ist, dass es um die Stabilisierung des Landes wesentlich schlechter bestellt ist als von der Regierung vorgegeben. Dass die Vereinigten Staaten weiterhin kein probates Mittel für die Befriedung des Iraks gefunden haben und dass die irakischen Politiker, Milizen und Religionsführer seit 2005 die Ereignisse weitgehend selbst beeinflussen.

Hinzu kommt: Die Feldberichte sind Rohmaterial. Und das weist Schwächen auf, ist unvollständig und dadurch verzerrt, dass Angaben unvollständig sind und sich nicht überprüfen lassen. "Kein Gesamtbild", schreibt der Spiegel, "kein neues Verständnis der Geschehnisse im Irak". Das Material enthält außerdem nur Protokolle bis zur Stufe "geheim", streng geheime Vorfälle werden gänzlich ausgespart.

Eine Fundgrube sind sie dennoch, alleine aufgrund der Masse. Und weil sich trotz der Makel und Fehler grobe, langfristige Entwicklungen abzeichnen lassen. Einzigartig ist der Blickwinkel der Irak-Papiere: Ihre Verfasser sind Soldaten von niedrigem Rang. Sie haben ein Konvolut produziert aus Sicht der Soldaten: Dramen auf Schlachtfeldern, Geschehnisse innerhalb des Militärs, tägliche Chroniken in einem kriegsgeschundenen Land.

Assange hat zu laut gebrüllt und er stünde besser da, wäre sein Urteil im Vorfeld weniger überhöht ausgefallen. Wenn seine Ankündigungen bescheidener ausgefallen und bei dieser Aussage belassen worden wären: "Diese Veröffentlichung zeigt nur die Wahrheit." (fin, derStandard.at, 25.10.2010)