"Ich habe zwei Bücher veröffentlicht. Ich mag schöne Dinge, möchte in der Lage sein, sie wiederzusehen": Lou Reed, Dienstagabend bei der Viennale-Gala zu seinem Film.

Zur Person:
Lou Reed, 1942 in eine konservative jüdische Familie in Brooklyn geboren, gründete Mitte der 1960er-Jahre mit John Cale unter Förderung von Andy Warhol die Band The Velvet Underground. Auch mit seiner 1972 begonnenen Solo-Karriere schrieb er Rock-Geschichte. Der äußerst belesene Musiker, der 2003 die auf Edgar Allan Poes Gedicht basierende Doppel-CD "The Raven" veröffentlichte, musste vergangenes Jahr die Europa-Tournee seiner neuen Band Metal Machine Trio aus "schwerwiegenden persönlichen Gründen" absagen. Reed lebt in New York.

Foto: STANDARD / Robert Newald

Mit Bert Rebhandl sprach das Gründungsmitglied von The Velvet Underground über seine erste Regiearbeit.

Standard: Wie kam es zu Ihrem Dokumentarfilm über Ihre Cousine Shirley Novick (eigentlich: Shulamit Rabinowitz): einer polnischen Jüdin, die nach Kanada, anschließend in die USA emigriert und nach dem Krieg als "Red Shirley" zu einer wichtigen Figur in der Gewerkschaft der Textilarbeiter wird?

Reed: Ich war immer schon sehr eng vertraut mit Shirley, und mir ging es letztendlich darum, etwas von ihr zu überliefern. Sie ist eine so überwältigende Persönlichkeit. Ich wollte ihre Geschichte und ihren "spirit" bewahren.

Standard: War es Zufall, dass die Dreharbeiten am Vorabend ihres 100. Geburtstags stattfanden?

Reed: Ja. Wir waren eben an dem Abend da. Der Fotograf Ralph Gibson machte die Kameraarbeit. Er ist ein Freund und macht so etwas normalerweise nicht. Shirley und ich fingen an zu sprechen, an einem bestimmten Punkt erschien es mir richtig, es gut sein zu lassen. Ben Flaherty stellte dann verschiedene Schnittfassungen her. Irgendwann beschlossen wir, einen richtigen Film zu machen.

Standard: Woher kommt Ihr Interesse für Fotografie, das Sie verschiedentlich dokumentiert haben?

Reed: Ich habe zwei Bücher veröffentlicht. Ich mag schöne Dinge, möchte in der Lage sein, sie wiederzusehen. Der Blick durch den Sucher ist wie Kino. Von daher kommt mein Interesse.

Standard: Im Film sieht man einmal eine Liste von Fragen: Haben Sie die selbst vorbereitet?

Reed: Nein. Ich bat meine Nichte, eine Anwältin, darum. Shirleys Erinnerungen betreffen ja das gesamte zwanzigste Jahrhundert: den Ersten Weltkrieg etwa, das Verhalten der deutschen Soldaten in ihrem Heimatort. Da ist es gut, vorbereitet zu sein.

Standard: Wollte Shirley Novick auch selbst vieles loswerden?

Reed: Wir würden sagen, sie ist "hardcore". Der Film hat eine freie Form, die Beziehung zwischen uns beiden ist der Subtext. Wir kommen einander im Verlauf der halben Stunde immer näher, es ist alles andere als eine normale Interviewsituation. Ich weiß nicht einmal, wie man den Film bezeichnen sollte: Ist das ein Dokumentarfilm? Es ist ein Akt der Liebe. Ihre Geschichten sind schrecklich, aber sie erzählt sie auf eine großartige Weise. Ich kenne das alles nur aus Büchern und Filmen, aber sie war dabei.

Standard: Der Titel "Red Shirley" erinnert an die Zeit der 1950er-Jahre, als es in den USA sehr mutig war, sich zur politischen Linken zu bekennen.

Reed: 2010 ist nicht mehr unmittelbar verständlich, was mit diesem Namen alles anklingt. Eine Immigrantin, die sich gegen eine von Männer dominierte Gewerkschaft stellt und die Diskreditierung als Kommunistin riskiert. Schon sehr bald wird es Menschen wie Shirley nicht mehr geben.

Standard: Bei den Midterm-Wahlen ging es auch um einen Präsidenten, der immer wieder als "Roter", als "Kommunist" verunglimpft wird.

Reed: Beängstigend, dass einige dieser Leute überhaupt zu einer Wahl antreten können. Ich habe per Briefwahl meine Stimme abgegeben. Vor allem aber setze ich dagegen die unglaubliche Humanität einer Shirley.

Standard: Wie geht es Shirley heute?

Reed: Sie ist 102 und hatte gerade eine Herzattacke. Aber sie hat das Krankenhaus schon wieder verlassen. Shirley lässt sich nichts bieten. She doesn't take any shit. (DER STANDARD, Printausgabe, 4.11.2010)