Bei einer Demo in Brasilien demonstrierten im Mai 2008 Landlose für eine Agrarreform

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Ein Mann betrachtet die Zeitungen - auf jedem Cover findet sich Dilma Rousseff

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An sich argumentiert Erwin Kräutler für einen katholischen Kirchenmann meist wohltuend bodennah. Und für seinen mutigen Einsatz für die Indigenas verdient der österreichisch-brasilianische Bischof und Träger des Alternativen Nobelpreises volle Anerkennung. Doch Kräutlers via Radio Ö1 verbreitete Kritik an der Siegerin in der Stichwahl um das brasilianische Präsidentenamt, Dilma Rousseff, diese habe „kein klares Programm sondern habe lediglich angekündigt, die Politik des scheidenden Präsidenten Luiz Inacio Lula da Silva fortzusetzen“, ist ärgerlich.

Dilma, wie die Nachfolgerin Lulas in Brasilien kurz und herzlich genannt wird, hat vor ihrer Wahl und auch danach angekündigt, dass der Kampf gegen das Elend, ja sogar „die Befreiung des Landes von der Armut“ im Zentrum ihrer Politik stehen wird. Das ist ein viel konkreteres und ambitionierteres Programm als all das, was mitteleuropäische  Wischiwaschi-Politiker zusammen zu bieten haben. Dilma hat darauf verwiesen, dass es in den vergangenen Jahren gelungen sei, fast 30 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer aus der extremen Armut zu holen, weitere 30 Millionen (von insgesamt 190 Millionen Einwohnern) schafften den Anschluss an die Mittelschicht. Erreicht wurde dies von der brasilianischen Arbeiterpartei mit einer Strategie, die in früheren Jahrzehnten auch von europäischen Sozialdemokraten verfolgt worden ist. Mit einer industriefreundlichen Politik versuchte man erfolgreich, ein starkes Wirtschaftswachstum zu anzukurbeln, um möglichst viel Geld für Sozialprogramme ausgeben zu können. Maßnahmen, die Unternehmer oder Investoren hätten verschrecken können (wie das in früheren Krisenzeiten geschah), wurden unterlassen. Deshalb unterblieb auch eine längst fällige Agrarreform. Das führte zu massiven Protesten der „Landlosen“, wie ich sie selbst in Brasilia miterlebt habe,  gegen die Regierung Lulas, die aber insgesamt sehr populär blieb. Verärgerung gab es aber, und daher dürfte auch Kräutlers Kritik kommen,  bei der indigenen Bevölkerung, die ihre Anliegen und mit ihnen auch den Umweltschutz von der Arbeiterpartei vernachlässigt sah. Umso interessanter ist es, dass die neue Präsidentin in ihrer Ankündigung, sie wolle in den nächsten Jahren das Elend beseitigen und den Sieg über Armut und Ungleichheit näher bringen, von einem neuen Entwicklungsmodell gesprochen hat, „das nachhaltiger gegenüber der Umwelt ist“.

Viel medialer Wind um ein Frau als Präsidentin

Viel Wind wurde in den Medien darum gemacht, dass es mit Dilma Rousseff erstmals eine Frau an die Staatsspitze Brasiliens geschafft hat. Dies käme in der westlichen Hemisphäre nur selten vor, hieß es mancherorts. Dankenswerterweise hat bei der spanischen Nachrichtenagentur EFE im Archiv nachgeschaut und dabei zwölf Frauen gezählt, die in den Staaten Lateinamerikas und der Karibik bisher die Staats- oder Regierungsspitze erreichten. Neben Dilma Roussef  in Brasilien bekleidet derzeit Laura Chinchilla in Costa Rica das Präsidentenamt; in Trinidad und Tobago ist Kamla Persad-Bissessar Premierministerin. Zu Jahresbeginn hat in Chile Michelle Bachelet eine sehr erfolgreiche und populäre Präsidentschaft beendet.  

Frühe Vorgängerinnen kamen ohne Volkswahl an die Staatsspitze. In Bolivien wurde Lidia Gueiler 1979 vom Parlament als Übergangspräsidentin berufen; 1990 wurde in Haiti die Höchstrichterin Ertha Pascal-Trouillot, vom Militär als Präsidentin eingesetzt. Durch einen Wahlsieg über den Sandinisten Daniel Ortega kam, ebenfalls 1990, in Nicaragua Violeta Chamorro ins Präsidentenamt. Als nächstes hatte Ecuador eine Präsidentin, wenn auch nur ganz kurz: im politisch dort sehr stürmischen Jahr 1997 war dort Rosalía Arteaga für 48 Stunden Staatschefin. Ebenfalls im Jahr 1997 kam in Guyana die in den USA geborenen Janet Jagan an die Macht und blieb Präsidentin bis 199; in Panama hatte  Mireya Moscoso, zwischen 1999 und  2004 die Präsidentschaft inne.

Die allererste Frau an der Spitze eines lateinamerikanischen oder karibischen Staates war freilich die Argentinierin, María Estela Martínez, die von ihren Anhängern Isabelita genannte dritte Ehefrau von Juan Domingo Perón. Nach dem Tod argentinischen Präsidenten und Volkstribuns im Juli 1974 folgte ihm Isabelita, die im Jahr davor zur Vizepräsidentin gewählt worden war, regulär an der Staatsspitze nach. Nach acht chaotischen Monaten putschte sie das Militär aus dem Regierungspalast, der Casa Rosada.

Dort amtiert seit Dezember 2007 Cristina Fernández, die vor wenigen Tagen ihren Ehemann, den Expräsidenten Néstor Kirchner zu Grabe getragen hat. Über die großen Herausforderungen, die Cristina Fernández de Kirchner bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen im Oktober 2011 erwarten, habe ich kürzlich in einem Südblick-Blog geschrieben. Neben positiven Reaktionen habe ich darauf auch einige kritische erhalten. Besonders beeindruckt hat mich die Kritik von Argentiniern, die politisch denken und sozial eingestellt sind. Ich hätte die Leistung der Kirchners zu wenig gewürdigt, hieß es.

Großer Teil der argentinischen Bevölkerung von Néstor Kirchners Politik begeistert

Aus dem rechten Lager war ja über die Kirchners nur das schlimmste zu hören, von Demagogie und Geldverschwendung war da die Rede, auch von autoritären Tendenzen der beiden Peronisten. Tatsache ist aber auch, dass ein großer Teil der argentinischen Bevölkerung von der Politik Néstor Kirchners (der von 2003 bis 2007 regierte) begeistert war und von der Witwe deren Fortsetzung erwartet.

Ganz vor steht dabei, wie ich es auch erwähnt habe, die neue Wertschätzung für die Menschenrechte. Néstor Kirchner erreichte die Aufhebung der Amnestie für die Verbrechen der Militärs während der Diktatur 1976-1983. Die Archive der Geheimpolizei wurden geöffnet, die Gerichte und auch die Streitkräfte wurden  reformiert.

Auf wirtschaftlichem Gebiet bot er nicht nur dem Diktat des Internationalen Währungsfonds, er holte auch die Post, die Wasserversorgung und die Aerolinas Argentinas ins Staatseigentum zurück und erhöhte durch eine Steuerreform die Staatseinnahmen wesentlich.  Auf außenpolitischem Gebiet (wo Gegner die zu Große Nähe zu Venezuelas Hugo Chávez kritisieren) loben die Anhänger, dass sich die Kirchners zu großer US-Nähe enthalten haben (ohne es gleich zum Bruch kommen zu lassen). Gesellschaftspolitisch wird schließlich ein auf Gleichberechtigung beruhendes Ehegesetz sowie eine progressive und alle gesellschaftlichen Bereiche einbeziehende Bildungsreform gerühmt. Man könnte zu all dem noch vieles anmerken. Ich will es aber einmal so stehen lassen und Leserinnen und Lesern, die solch positive Einschätzungen in spanischer Sprache lesen können und wollen, drei Artikel aus der argentinischen Zeitung Pagina 12 empfehlen. Die Texte stammen vom Schriftsteller Mempo Giardinelli, vom Filmschauspieler Leonardo Sbaraglia und von Nilda Garré, der eindrucksvollen ersten Verteidigungsministerin Argentiniens. Ihr Beitrag trägt den Titel: „Gracias Néstor. Fuerza Cristina. Wir unterstützen dich“.

Scharfe soziale Auseinandersetzungen weiterhin möglich

Die hier zuvor ausgesprochene Befürchtung, dass es bei einem möglichen Rechtsschwenk der Regierung in Argentinien zu scharfen sozialen Auseinandersetzungen kommen könnte, wurde freilich noch nicht entkräftet. Nach dem Zusammenstössen von etablierten Eisenbahnergewerkschafter gegen rebellische Eisenbahnervertreter und deren Unterstützen vom linken „Partido Obrero“, bei denen es im Süden von Buenos Aires einen Toten gab, ist es in mindestens einem weiteren Fall zu blutigen Zusammenstössen gekommen. Was den getöteten PO-Aktivisten Mariano Ferreyra betrifft, so glauben Zeugen den Schützen erkannt zu haben. Doch dieser, der als ein Anführer der Fans von „Defensa y Justicia“ (Sportclub Verteidigung und Justiz) bekannt ist, leugnet die Tat. Die entlassenen oder in Leiharbeitsverhältnisse abgeschobenen Eisenbahner, deren Demo mit Gewalt gesprengt worden war, haben am Dienstag dieser Woche übrigens neuerlich kurzzeitig aus Protest eine Bahnstrecke blockiert.