Immer stärker erhärte sich der Eindruck, dass nicht nur Einzelpersonen, sondern ganze Organisationen an Burnout erkranken können, sagt Torsten Jung, geschäftsführender Gesellschafter der Beratergruppe Neuwaldegg. Die Entstehung des heute "Organizational Burnout" genannten Modells baut - kurz gesagt - auf ein u. a. von Jung erstelltes Programm zur Stressbewältigung und Burnout-Prophylaxe, das Ursachen analysiert und Handlungsoptionen liefert.

Zunächst war dieses Programm für Einzelpersonen konzipiert worden, erzählt Jung. Schnell stellte sich aber heraus, dass eine Organisation, die im Dreieck zwischen Umwelt (u. a. Gesetze, Markt), Ressourcen (u. a. personelle Ausstattung, situative Führungskompetenz, Umgang mit riskanten Situationen) und Unternehmensidentität und -kultur (strategische Ausrichtung, Mission, Vision, Governance, Prozesse) steht, ebenfalls ähnlich Symptome aufweisen kann, so Jung weiter. Dabei konnten die Berater fünf Stufen wahrnehmen:

  • Beschleunigungsfalle: Wenn Märkte einbrechen, Kunden wegfallen, gewohnte ökonomische Modelle nicht mehr funktionieren, geht es in Unternehmen zunächst einmal ums Überleben. Mit der häufigen Reaktion, den stetigen Veränderungen mit "mehr vom Gleichen" zu begegnen.

Der erste Schritt in die Beschleunigungsfalle, so Jung. Hier müssen Unternehmen erkennen, dass diese "Reflexe" als Bewältigungsstrategie für die gegebenen Umweltkonstellationen an ihre Grenzen stoßen. Meist fehlen klare Projekt-Priorisierungen und Veränderungsinitiativen. Häufig fehlt auch das "große Gesamtbild" der Unternehmensentwicklung.

  • Kollektive Verdrängung: In dieser zweiten Phase steigt die Komplexität, geht der Überblick verloren, und interne Abstimmungsschwierigkeiten werden zunehmend deutlich. Ein "Alignment", also die gemeinsame Ausrichtung des Managements, ist nicht mehr spürbar, sagt Jung. Und auch eine realistische Einschätzung, wo die Unternehmung im Spiel der Märkte stehe, gehe zunehmend verloren. Einzelne Mitarbeiter erleben diese Phase als "Anfang vom Ende", es komme zu inneren Kündigungen oder zum "Dienst nach Vorschrift".
  • Kollektiver Identitätsverlust: Auf die Frage "Wofür stehen wir im Unternehmen?" weiß das Management zunehmend schwerer Auskunft zu geben. Das Gefühl der kollektiven Identität "als das, was den Markenkern von innen her ausgemacht hat", sagt Jung, geht verloren. Stammkunden beenden die Beziehung, Top-Mitarbeiter verlassen das Unternehmen. Zudem mache sich kollektiver Zynismus sowie starkes Misstrauen breit, die Führung kann die Unsicherheit im Unternehmen nicht mehr absorbieren.
  • Kollektive Resignation: Aus Zynismus ist Resignation geworden. Nur noch wenige Leistungsträger würden noch leidenschaftlich für eine neue Vision eintreten, die wirtschaftliche Existenz ist in Gefahr. Lähmung und Trägheit macht sich im Management breit, und die Sinndimension ist kaum noch erkennbar. Auch neue Gesamtstrategien für den Umgang mit der Krise sind nicht sichtbar.
  • Organizational Burnout: Wie beim individuellen Burnout breitet sich ein Gefühl der inneren Leere und Depression aus. Das System erlebt sich als "kurz vor dem Zusammenbruch". Das Sterben der alten Identität - z. B. durch Liquidation oder Übernahme - zeichnet sich ab, es wird noch versucht, zu retten, was noch zu retten ist, allerdings mit mangelhafter Effizienz, so die Expertise. Kurz gefasst sei das der "Zusammenbruch der Lebendigkeit".

Unternehmen aller Größen seien von diesem Phänomen betroffen, immer aus unterschiedlichen Gründen, sagt Jung. Handlungsoptionen gebe es allemal, sagt er. Allerdings ist dazu die Einsicht des Top-Managements unabdinglich, um entsprechende Maßnahmen einleiten zu können. (haa/DER STANDARD; Printausgabe, 6./7.11.2010)