Bewusst umzingelt von Enzis: Im Museumsquartier wurde Integrationsexperte Kenan Güngör 2007 auf den bunten Outdoor-Möbeln zum Wahlwiener. Heute hat er auf dem Areal sein Büro. Der Name ist Programm: [difference:].

Foto: Standard/Andy Urban

Mit sieben Jahren wurde Kenan Güngör quasi ein Gastkind. Weg von der Großmutter, mit der er bis dahin in einem kurdischen Bergdorf im ostanatolischen Tunceli gelebt hatte. Kein Strom, kein Wasser, und ein ungefähres Geburtsdatum. Nur das Jahr ist sicher: 1969. "Ich bin die kurdisch-türkische Version von Heidi", sagt er scherzhaft. Das Ziel war Deutschland, Köln. Seine Familie. Fremde. Ein Mann, der "baba", eine Frau, die "anne" genannt wurde. "Klassische Gastarbeiter".

In einer Arbeitersiedlung, in der nur Türken lebten. Auf der gegenüberliegenden Seite des Fußballbolzplatzes wohnten die Italiener. Die erste Segregationserfahrung - von der städtischen Wohnpolitik vorgegeben, und der erste Sprachverlust. Die Eltern taten alles, um das Kurdische zu unterbinden. Dann schon lieber Türkisch, um weniger exponiert zu sein. "In Deutschland habe ich Türkisch gelernt, erst danach Deutsch."

Aleviten waren sie auch. "Sogar in die Moschee gingen wir, um nur ja nicht aufzufallen, obwohl Aleviten nicht in der Moschee beten." An "aktive Diskriminierungserfahrungen" erinnert sich Güngör kaum. "Sprich kein Kurdisch!" kam von innen, der Familie. Anpassen, um sich unauffällig einzupassen in eine Gesellschaft, die nur Gaststatus zugesteht. Also haben sie sich wie Gäste benommen. Gäste reisen irgendwann wieder ab. Kenan dachte nicht daran, zu bleiben. So wie für seine Eltern, "die ihre geistigen Koffer nie ganz ausgepackt haben", war für ihn klar, er will zurück. "Die Sehnsucht hat sich lang gehalten."

Er ging, wie damals fast alle, auch die deutschen Kinder, in die Hauptschule. Genauer: Er ging nur ab und zu hin. Das gefiel seiner Mutter nicht. Sie, die nie in einer Schule war, "bildungsferner" geht wohl kaum, wollte, dass er lernt. Er wollte lieber in den Zoo oder in die Bücherei, las Asterix und Tierbücher. Spürte "die gute Nachbarschaft der Bücher" - und die Differenz zwischen dem, der er in der Schule war, der Coole, und dem, der er draußen war, ein Loser.

Eine Lehrerin wurde Möglichkeitsmensch für ihn. "Kenan, du spielst doch nur, was du bist. Wenn du willst, bist du der Beste in der Klasse." Er, der noch nie ein Buch gelesen hatte, der Beste? Es nagte in ihm und beflügelte ihn. Ein zweites Erwachen im Freibad. Kenan bekam den Spiegel in die Hand. Fasziniert und entsetzt, "weil ich nichts verstand, was drin stand" - und er merkte, er gehört nicht mehr zu den anderen. Zwei Differenzerfahrungen "zu Dingen, die als selbstverständlich galten", die ihn prägten - und der Grund sind, warum sein Büro, [difference:] heißt und er bis heute keine "einseitigen Erklärungen" mag. Die "Hurra, alles ist toll"-Fraktion ist ihm genauso suspekt wie die Verbohrten, die alles Fremde pauschal abwerten.

Nach einem guten Realschulabschluss ging er zu Ford. Nicht ans Fließband wie seine Freunde. Ins Büro. Er war so gut, dass er Karriere hätte machen können, aber der politisch Aufgewachte hatte noch zu viele Fragen, die nicht mit "einem Büro und viel Kohle" beantwortet waren. Er holte die Matura nach, studierte Soziologie. "Es waren immer knappe Entscheidungen, es hätte alles auch anders kommen können."

Nach einer frechen Bewerbung ("Ich bin nicht von Berufs wegen Migrant") landet er am Zentrum für Türkeistudien, geht 2000 in die Schweiz, weitet ab 2002 sein Feld aus nach Österreich und erarbeitet u. a. die Integrationsleitbilder für Vorarlberg, Oberösterreich und Tirol. Seit 2007 lebt der mit einer kurdischen Ökonomin verheiratete Vater zweier Kinder als Integrations- und Migrationsexperte in Wien. Laut Pass ist er Deutscher. Güngör spricht von "transnationaler Sozialisation": "Ich bin nicht der, der in der Türkei geboren und aufgewachsen ist. Um die kurdische Identität nicht zu verleugnen, darf man den Reichtum seiner Biografie nicht verleugnen. Ich verstehe mich als deutschsprachigen Europäer mit kurdisch-türkischen Wurzeln."

Aus dem "Gastkind" Kenan wurde kein Gastarbeiter. Seine Koffer sind ausgepackt. Einmal im Jahr fährt er zurück "ins Dorf". Zu Hause ist er Wien. Kenan Güngör ist gekommen, um zu bleiben. (Lisa Nimmervoll, DER STANDARD; Printausgabe, 8.11.2010)