Istanbul - Tayyip Erdogan war nicht amüsiert. "Ich antworte nicht auf diese Form von Journalismus, ich bekämpfe sie", kündigte der türkische Premierminister an und verklagte einen der einflussreichsten Kommentatoren des Landes. 50.000 Euro Schadenersatz will er für diesen einen Satz: "Diese Leute verkaufen auch noch ihre eigenen Mütter."

Oktay Eksi, langjähriger Chefkolumnist des Massenblatts Hürriyet (Freiheit) und Präsident des türkischen Presserats, trat auch zurück, nachdem seine Ende Oktober erschienene Kolumne den Regierungschef erzürnt hatte. Die allgemeine Lesart ist: Die türkische Regierung hat seinen Rücktritt gefordert. Es ist nicht nur ein Beispiel dafür, wie dünnhäutig Tayyip Erdogan auf Kritik in den Medien reagiert. Der Fall Eksi spiegelt auch die eng gewordenen Grenzen der Meinungsfreiheit in der Türkei wider, ein zentraler Kritikpunkt im Fortschrittsbericht der EU-Kommission, der heute, Dienstag, vorgestellt wird.

Im Entwurf des jährlichen Türkei-Berichts steht, es gebe zwar eine zunehmend freie Debatte in den Medien und der Öffentlichkeit über Themen, die früher als sensibel galte, wie die kurdische oder die armenische Frage. Anti-Terror- und Pressegesetze würden aber dazu verwendet, die Meinungsfreiheit einzuschränken.

Rund 1200 Journalisten haben derzeit ein Verfahren am Hals. Meist geht es um Verleumdungsklagen wie im Fall des Kolumnisten Eksi. Der hatte im Zusammenhang mit dem forcierten Bau von Wasserkraftwerken die Umwidmung von Naturschutzgebieten durch die Regierung angeprangert. Allein 50 Journalisten sind aber seit dem 30. September wegen ihrer Berichte über den angeblichen nationalistischen Geheimbund Ergenekon in Haft. (mab, DER STANDARD, Printausgabe, 9.11.2010)