"Ich bin nicht sehr gut darin, Politikern Ratschläge zu geben", sagt Zygmunt Bauman, "weil die für die Politiker selbstmörderisch wären." Der neue Labour-Führer Ed Miliband hat dennoch einige von Baumans Büchern gelesen.

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STANDARD: Sie waren zweimal in Ihrem Leben selbst in der Rolle eines unfreiwilligen Migranten und haben über die Erfahrung der Fremde und des Fremdseins mehrere Bücher geschrieben. Wie kam es dazu, dass das Thema Migration heute so allgegenwärtig ist?

Bauman: Dieses Phänomen ist soziologisch und historisch betrachtet vergleichsweise jung und entstand gemeinsam mit der modernen Gesellschaft. Vor der Moderne lebten die meisten Menschen in einfachen Verhältnissen, aber für alle war Platz, und alle wurden irgendwie gebraucht – für einfache Arbeiten in der Landwirtschaft oder sonst wo. Erst mit der Modernisierung und der Generation unserer Urgroßeltern entstanden hier in Europa rund um 1900 "überflüssige" Personen, die keine Mittel zum Überleben hatten und deshalb nach Nord- und Südamerika oder nach Australien auswanderten.

STANDARD: Heute hingegen wollen die Menschen nach Europa.

Bauman: Genau. Früher war das die einzige Region der Welt, die überflüssige Menschen produzierte. Wegen der Machtdifferenz zwischen Europa und dem Rest der Welt sowie der geringen Besiedelung der Zielländer fanden sich für dieses lokale Problem Europas globale Lösungen. Heute ist es umgekehrt: Migration ist ein globales Problem, für das man lokale Lösungen sucht. Aber das ist heute nahezu unmöglich geworden. Das Problem ist gegenwärtig besonders akut, aber womöglich ist das erst der Anfang.

STANDARD: Sehen Sie irgendwelche einfachen Lösungen des Problems?

Bauman: Nein. Und die Situation wird natürlich umso schwieriger, je schlechter die ökonomische Situation ist. Das politische Hauptproblem besteht darin, dass aus dem Ressentiment gegenüber Migranten so viel politisches Kapital zu schlagen ist. Es geht da gar nicht so sehr darum, wie viele Stimmen die Rechtsparteien kriegen, sondern wie sehr sich die anderen Parteien verändern und den Job der Rechten machen.

STANDARD: Warum tun wir uns – soziologisch und psychologisch betrachtet – mit den Fremden so schwer?

Bauman: In Gegenwart eines Fremden fühlt man sich unsicher, und das ist ein unangenehmer Zustand. Man weiß nicht, wie man sich benehmen soll, man kann die Gesten der fremden Person nicht lesen und ihre Absichten nicht erkennen. Dazu kommt ein gewisses Gefühl der Ohnmacht gegenüber den fremden Menschen, die plötzlich da sind und nicht mehr weggehen wollen.

STANDARD: In Ihren Büchern betonen Sie aber auch die positiven Seiten dieser Erfahrung.

Bauman: Richtig. Das Fremde ist einerseits etwas, das uns Angst macht. Aber es ist auch etwas Aufregendes. Es gibt zwei sozialpsychologische Tendenzen, die aus dieser Vermischung der Gesellschaft durch Migration entstehen. Eine würde ich "Mixophobie" nennen, das Unwohlsein in der Präsenz des anderen und die Angst, in der Diversität aufzugehen. Aber es gibt auch "Mixophilie" und die Lust an der Diversität, die ja eine ganz wichtige Wurzel für Kreativität und Entwicklung ist, wie man schon bei Gotthold Ephraim Lessing nachlesen kann. Ich kann nicht sagen, welche der beiden Tendenzen sich künftig durchsetzen wird.

STANDARD: Die Politik schürt eher die "Mixophobie".

Bauman: Klar, denn auch Politiker sind rational denkende Menschen und wollen wiedergewählt werden. Deshalb bedienen sich die meisten von ihnen dieses Kapitals, das man aus dem Ressentiment gegenüber den Zuwanderern schlagen kann. Dazu kommt aber noch ein anderes Motiv, nämlich die Legitimationskrise des modernen Staates.

STANDARD: Was meinen Sie damit?

Bauman: Als sich nach dem Zweiten Weltkrieg fast überall in Europa das Modell des Wohlfahrtsstaats durchsetzte, war das mit dem Versprechen verbunden, dass der Staat seine Bürger gegenüber individuellen Katastrophen schützt und die Gemeinschaft für den Einzelnen Sorge trägt. Das kann heute kein Staat mehr, denn wirtschaftliche Absicherung hängt heute nicht mehr allein vom Nationalstaat ab, sondern von globalen Kräften. Was kann die Regierung hier in Wien gegen Finanzkrisen tun, die in den USA oder sonst wo in der Welt ausbrechen? Und was gegen multinationale Unternehmen, die ihre Standorte von Salzburg oder Graz nach Schanghai verlegen?

STANDARD: Wenig.

Bauman: Das bedeutet aber auch, dass die staatlichen Regierungen auf Dauer keine existenzielle Sicherheit bieten können. Was sie stattdessen bieten können, ist persönliche Sicherheit – indem man die "gefährlichen Fremden" abschiebt und das dann im Fernsehen zeigt. Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit lässt sich schwerer im Fernsehen darstellen.

STANDARD: Im "Guardian" war kürzlich zu lesen, dass Sie der Vordenker der neuen britischen Labour-Führung seien. Was empfehlen Sie den Brüdern Miliband?

Bauman: Das ist so nicht richtig. Ich stehe mit den Milibands in keinem engen Kontakt und spiele jedenfalls nicht die Rolle eines Beraters, wie das Anthony Giddens für Tony Blair getan hat. Vergleichen Sie mich bitte nicht damit! Ich habe die Milibands aber womöglich dadurch beeinflusst, dass sie einige meiner Bücher gelesen haben. Ich hielt mich immer auf Distanz zur Politik, und außerdem bin ich nicht sehr gut darin, Politikern Ratschläge zu geben.

STANDARD: Warum?

Bauman: Weil meine Ratschläge für Politiker selbstmörderisch wären: Sie würden ihr komplettes politisches Kapital verspielen. Ich will zudem kein Prophet sein, sondern nur herausfinden, was in der Gesellschaft gerade läuft. Und ich hoffe, dass meine Leser daraus Anregungen ziehen können. (Klaus Taschwer, 9.11.2010)