"Es war wohl bekannt, welches Naturell der Botschafter hat": Günay

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Die Aussagen des türkischen Botschafters Kadri Ecved Tezcan hätten eher etwas mit seinem Naturell zu tun, als mit einer geänderten außenpolitischen Strategie der Türkei, meint Politikwissenschafter Cengiz Günay im Gespräch mit derStandard.at. Denn er spreche auch in der Türkei vielen Menschen aus der Seele: Viele seien enttäuscht über antitürkische Stimmungen in der EU. Maria Sterkl stellte die Fragen.

derStandard.at: Herr Günay, wie beurteilen Sie die Aussagen des türkischen Botschafters? War das eine „patscherte" Aktion, oder bewusste Provokation?

Cengiz Günay: Ich glaube, er hat sich einfach ziemlich von der Leber gesprochen. Es ist natürlich ziemlich ungewöhnlich, dass ein Botschafter so offen redet und keine diplomatische Wortwahl verwendet.

derStandard.at: Sie glauben also, die Wortwahl ist ihm „passiert"?

Günay: Ich glaube eher, dass das mit seinem Naturell zu tun hat. Ich habe ihn als jemanden kennengelernt, der sehr offen ist und auch sehr offen über seine Ansichten spricht. Insofern passt er nicht in das klassische Bild eines Diplomaten, der, wenn er etwas sagt, nichts sagt.

derStandard.at: Er hat die Regierungspolitik bzw. einzelne Regierungsmitglieder scharf angegriffen. Ist das von Ankara so gewollt, oder zumindest geduldet?

Günay: Ich glaube nicht, dass das von Ankara so vorgegeben wurde. Aber es ist für die türkische Regierung wohl keine großartige Überraschung, dass er Aussagen trifft, die nicht gerade dem diplomatischen Usus entsprechen. Schließlich hat man ihn zum Botschafter ernannt, und es war wohl bekannt, welches Naturell er hat.

derStandard.at: Aber wie sieht man die Aussagen in Ankara, Ihrer Einschätzung nach?

Günay: Ich glaube, der Botschafter spricht vielen aus der Seele. Es herrscht in der Türkei einfach eine Enttäuschung über die türkeikritischen bis xenophoben Töne, die es in Österreich und auch in anderen Ländern in den letzten Jahren zu hören gab. Das hat doch auch zu einer gewissen Wut geführt. Insofern werden ihm inhaltlich viele Recht geben.

derStandard.at: Werden seine Aussagen die Fronten verhärten, oder bringen sie vielleicht wichtige Diskussionen erst in Gang?

Günay: Ich glaube, für viele Türken ist das schon erfrischend, dass jemand aus der offiziellen Türkei einmal das Wort ergreift. Meistens wird über sie, aber nicht mit ihnen diskutiert. Oft fühlen sie sich auch von den türkischen Behörden nicht vertreten. Erst in den letzten Jahren ist die Botschaft stärker in Kontakt mit hiesigen türkischen Vereinen getreten.

derStandard.at: Können Sie die Aussagen Tezcans inhaltlich nachvollziehen?

Günay: Im Prinzip stimmt vieles, ich würde ihm aber nicht in jedem Punkt zustimmen. So einfach sind die Dinge nicht, wie er sie darstellt. Zweitens tritt er sehr vereinnahmend auf – niemand kann für alle Türken im Land sprechen. Ich habe aber auch das Gefühl, dass das Interview in einer bestimmten Weise geführt wurde.

derStandard.at: Was meinen Sie?

Günay: Ich hatte beim Lesen des Interviews das Gefühl, als ob es ein Streitgespräch gewesen wäre. Der Interviewer scheint schon mit gewissen Ideen hineingegangen zu sein. Man hört aus dem Interview den ständigen Vorwurf „Ihr wollt euch ja nicht integrieren", und die Gegenwehr „Ihr wollt uns ja nicht dahaben" – Angriff und Gegenattacke.

derStandard.at: Der Botschafter sagt indirekt, AustrotürkInnen würden gar keinen sozialen Aufstieg anstreben, dies widerspreche nämlich „unserer Philosphie im Islam". Verwundert Sie das?

Günay: Dem kann ich gar nicht zustimmen. Was aber seinen Bezug auf den Islam betrifft: Seit dem elften September gibt es einen Diskurs, wo selbst Muslime, die gar nicht gläubig sind, sich über die Religion definieren. Ich glaube nicht, dass die Leute religiöser sind als früher – aber als identitäre Markierungen ist das wichtiger geworden. Insofern sind die Aussagen des Botschafters wohl eine Reaktion auf einen antimuslimischen Kurs. Es gibt die Tendenz, zu sagen: Ja, verdammt, ich bin Moslem, und das ist nichts Schlechtes.

derStandard.at: Das wäre die psychologische Erklärung. Aber wie stufen Sie es politisch ein? Schließlich ist der Botschafter Vertreter eines laizistischen Staates.

Günay: Das stimmt natürlich. Der islamophobe Diskurs in Europa hat auch in der türkischen Politik dazu geführt, diese Pauschalisierung zu übernehmen, obwohl man sie eigentlich bekämpfen wollte. Politisch ist das längerfristig vielleicht nicht so günstig. Obwohl gerade der Fokus auf den Islam, verbunden damit, dass die Türkei eine Demokratie ist, aus Sicht der USA beispielsweise schon als Asset wahrgenommen wird – das nützt der Türkei also auch.

derStandard.at: Wird der Vorfall irgendwelche Auswirkungen auf die diplomatischen Beziehungen der Türkei haben?

Günay: Nein, das glaube ich nicht. Wir leben in einer Zeit, wo die diplomatische Tradition fast ein bisschen ins Hintertreffen gerät und die Ausdrucksweise sich verändert. Es ist ja nicht so, dass Angela Merkel sich immer so diplomatisch äußern würde. Dazu kommt, dass wir in einer sehr kurzlebigen Zeit leben: Aufregungen wie diese dauern maximal eine Woche, nicht länger. Schließlich hat Österreich inzwischen ziemlich große wirtschaftliche Interessen in der Türkei.

derStandard.at: Wie bewerten Sie die Reaktion der österreichischen Bundesregierung?

Günay: Dass es eine Riesen-Empörung in Österreich gibt, ist klar – noch dazu, wo es der türkische Botschafter ist. Prinzipiell hört aber niemand gern Kritik von außen, das wird immer wie eine Einmischung empfunden. Es wäre wahrscheinlich auch ärgerlich, wenn ein amerikanischer Botschafter sich kritisch zur Innenpolitik äußert. Andererseits hat er durchaus richtige Dinge angesprochen. Dass die Integration im Innenministerium angesiedelt ist, und dass die Innenministerin Zuwanderung hauptsächlich als Problem sieht, das sind natürlich kritikwürdige Punkte. (derStandard.at, 11.11.2010)