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Demonstranten vor dem Parlament in Kiew protestieren gegen die geplante Steuerreform, die unter anderem striktere Regeln für Kleinunternehmen vorsieht.

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Mykola Asarow: "Es gibt keinerlei Kontrolle über die Medien."

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Normalisierung mit Russland, Wiederherstellung der Staatsgewalt im Innern: Der ukrainische Premier Mykola Asarow verteidigt im Gespräch mit Josef Kirchengast den umstrittenen neuen Kurs in Kiew.

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STANDARD: Acht Monate nach dem Amtsantritt von Präsident Wiktor Janukowitsch scheint die Ukraine wieder deutlich näher an Russland herangerückt zu sein. Der Vertrag über die Verlängerung der Stationierung der russischen Schwarzmeerflotte auf der Krim bis mindestens 2042 ist nur ein Beispiel dafür. Kehrt Kiew dem Westen den Rücken zu?

Asarow: Die Ukraine ist nirgendwohin gerückt. Sie steht geografisch und politisch, wo sie immer war: im Zentrum Europas. Wir haben einfach normale gutnachbarliche Beziehungen zu Russland wiederhergestellt, ich betone das. Russland ist einer unserer größten Handelspartner, zusammen mit der EU.

STANDARD: Wie hat sich das Verhältnis zur EU entwickelt?

Asarow: In diesen acht Monaten haben wir die Verhandlungen mit der EU über eine Freihandelszone und visafreie Regime deutlich aktiviert. Unsere regierende "Partei der Regionen" hat mit der Fraktion der Sozialisten und Demokraten im Europaparlament ein Abkommen über Zusammenarbeit unterzeichnet. Wir haben die EU-Energiecharta unterzeichnet und wurden damit vollwertiges Mitglied der europäischen Energiegemeinschaft. Allein das zeigt, dass wir eine ausgewogene Politik betreiben.

STANDARD: Gemäß der ukrainischen Verfassung dürfen keine fremden Truppen auf ukrainischem Staatsgebiet stehen. Kritiker sagen daher, das Abkommen mit Russland über die Schwarzmeerflotte sei verfassungswidrig.

Asarow: Die gültige ukrainische Verfassung wurde verabschiedet, nachdem die russische Schwarzmeerflotte bereits auf der Krim stationiert war.

STANDARD: Das ändert aber nichts daran, dass die Verfassung gilt und gleichzeitig die russischen Truppen stationiert sind.

Asarow: Uns bereitet die russische Flotte auf der Krim nicht mehr Sorgen als etwa die britische Flotte in Gibraltar den Spaniern.

STANDARD: Journalisten, Intellektuelle und Oppositionelle klagen über zunehmend autoritäre Tendenzen in der Ukraine: wachsende staatliche Kontrolle über Medien, Druck auf regierungskritische Fernsehsender, etwa durch Nichterteilung von Sendelizenzen, und mehr oder weniger sanfter Druck auf kritische Journalisten.

Asarow: Zuallererst: In der Ukraine gibt es keinerlei Kontrolle über die Medien. Und unser Fernsehen ist gegenüber der Regierung oft kritischer eingestellt als die Opposition. Vielleicht ist das auch normal. Was die autoritären Tendenzen anlangt, haben mir auch die österreichischen Geschäftsleute bestätigt, dass sie sehr froh sind, dass nach fünf Jahren Chaos endlich Demokratie und Stabilität einkehren. Denn in den letzten fünf Jahren gab es in der Ukraine de facto keine Staatsgewalt. Internationale Abkommen wurden nicht erfüllt.

STANDARD: Sie spielen auf die Gaskrise Anfang 2009 an.

Asarow: Da erhielt ganz Europa zwei Wochen lang kein Gas. Das war die frühere Macht. Wem gefällt so eine Ordnung? Jetzt sind wir zuverlässige Gaslieferanten für Europa. Wenn das Autoritarismus ist, dann ist es ein guter Autoritarismus. Ich habe den österreichischen Unternehmern drei Schlüsselwörter gesagt: Stabilität, Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit. Das charakterisiert die heutige Macht.

STANDARD: Stichwort Gas. Russland hat der Ukraine im Gegenzug zur Pachtverlängerung des Flottenstützpunkts auf der Krim eine Gaspreisreduzierung um 30 Prozent zugesagt. Es gibt Informationen, dass Moskau seine Verpflichtungen noch nicht erfüllt hat.

Asarow: Russland erfüllt seine Verpflichtungen hundertprozentig. Das bedeutet minus 100 Dollar je tausend Kubikmeter gegenüber dem bisherigen Vertrag, den die frühere Regierung nach der Jännerkrise 2009 abschloss. Aber wir haben mehrmals gesagt, dass wir mit diesem Liefervertrag nicht einverstanden sind, weil er für uns höchst ungünstig ist. Deshalb wollen wir ihn ändern. Darüber laufen sehr harte Verhandlungen.

STANDARD: Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat die Ukraine mit Milliardenkrediten praktisch vor dem Staatsbankrott gerettet. Mit welchen Reformen will Ihre Regierung die Wirtschaft modernisieren?

Asarow: Die frühere Regierung hat alle von Ihnen erwähnten Kredite verbraucht und keine Reformen durchgeführt. Deshalb hat der IWF die Zahlungen ausgesetzt. Wir haben die Zusammenarbeit wiederaufgenommen und von einem neuen Kredit die erste Tranche in Höhe von 1,8 Mrd. Dollar erhalten. Aber jetzt muss die Ukraine nicht mehr vor dem Bankrott gerettet werden. Wir haben eine sehr stabile Lage. In den letzten drei Monaten haben die internationalen Ranking-Agenturen die Ukraine dreimal hinaufgestuft. Wir haben noch keinen Cent von diesem Kredit ausgegeben, aber wir werden ihn vielleicht brauchen.

STANDARD: Wofür?

Asarow: Wir bereiten eine Steuerreform, auch mit Steuersenkungen, vor, um die Wirtschaft anzukurbeln. Dazu kommen große Infrastruktur-Vorhaben, etwa im Zusammenhang mit der EURO 2012. Auch im sozialen Bereich, beim Pensionssystem und im Gesundheitswesen, werden wir Reformen in Angriff nehmen. Unser Haushaltsdefizit beträgt fünf Prozent des BIPs, wir hoffen, dass es 2011 auf unter drei Prozent sinkt. Mit 40 Prozent des BIPs ist unsere Staatsverschuldung deutlich geringer als in jedem EU-Land. Die Kreditmittel werden zu Ressourcen für unsere Reformen.

STANDARD: Bleibt der EU-Beitritt ein strategisches Ziel der Ukraine?

Asarow: Gemäß dem Gesetz über die Grundlagen der Innen- und Außenpolitik ist das Ziel die europäische Integration der Ukraine. Aber wir wissen, dass der Weg dorthin sehr lang ist. Die Ukraine muss ihre Hausaufgaben machen. Deshalb ersuchen wir die EU nicht um konkrete Beitrittstermine, sondern sagen: Gehen wir Schritt für Schritt voran. Schließen wir jetzt ein Freihandelsabkommen, ein Abkommen über visafreien Verkehr, und so weiter. Wenn die Bedingungen reif sind, werden wir einen Beitrittsantrag stellen. Die Ukraine ist ein europäisches Land, und gemäß dem EU-Statut darf sie den Antrag stellen.  (DER STANDARD, Printausgabe, 11.11.2010)