Ulrich Delius ist Afrika-Referent bei der Gesellschaft für bedrohte Völker: "Für die französische Industrie ist Marokko ein wichtiger Markt für Exporte in die gesamte arabische Welt. Frankreich nimmt Marokko quasi als Hinterhof an und versucht deswegen, alle internationalen Entscheidungen im Sinne des marokkanischen Königshauses zu beeinflussen."

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Sahrauische Frauen demonstrieren gegen die Rechtlosigkeit ihrer Volksgruppe.

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Seit 19 Jahren versucht die UN-Mission MINURSO in der Westsahara einen fix und fertigen UN-Friedensplan umzusetzen. Bisher ohne jeglichen Erfolg. Marokko und die Unabhängigkeitsbewegung POLISARIO stehen sich nach wie vor unversöhnlich gegenüber. Erst in den vergangenen Tagen kam es wieder zu blutigen Zusammenstößen, nachdem marokkanische Sicherheitskräfte ein Zeltlager von Demonstranten gestürmt hatten, die gegen die schlechten Lebensbedingungen der in der Westsahara lebenden Sahrauis protestieren wollten.

Für eine Lösung des Konfliktes fehle bisher der internationale Druck, sagt Ulrich Delius, der Afrika-Referent der Gesellschaft für bedrohte Völker in Göttingen. Realpolitische Interessen übertrumpfen einmal mehr menschenrechtsfreundliche Sonntagsreden. Zum Leidwesen der Bevölkerung.

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derStandard.at: In der Hauptstadt des von Marokko seit 31 Jahren besetzten Gebietes Westsahara, Laayoune kam es in den vergangenen Tagen zu Zusammenstößen zwischen marokkanischen Soldaten und der Volksgruppe der Sahrauis. Seit 19 Jahren sind die Blauhelme in der Westsahara im Einsatz um einen Friedensplan umzusetzen. Bisher erfolglos. Ein sinnloser UN-Einsatz?

Delius: Es ist immer gut, langjährige UN-Einsätze zu hinterfragen. Wo stehen wir? Muss man das Mandat verändern, um effizienter zu werden? Definitiv müsste in der Westsahara das Mandat um die Wahrung der Menschenrechte erweitert werden. Das ist aber am Einspruch Frankreichs bei den letzten Verhandlungen im Sicherheitsrat gescheitert. Deshalb können die Blauhelme solche Übergriffe wie den aktuellen nicht verhindern. MINURSO (Name der UN-Mission, Anm.) ist allerdings auch das einzige internationale Instrument, das sich mit diesem Konflikt beschäftigt und nur deshalb gibt es überhaupt Vermittlungsbemühungen. Marokko würde die Mission am liebsten eingestellt sehen. Lässt das internationale Interesse nach, ist das aber für die Westsahara noch ein größeres Risiko.

derStandard.at: Warum blockiert Marokko die Umsetzung des Friedensplanes derart vehement und seit Jahren?

Delius: Ein Schlüssel der Konfliktes ist die Frage der Vorherrschaft in Nordwestafrika. Die Westsahara ist in dieser Diskussion der Spielball. Maraokko hat den Herrschaftsanspruch eines Großmarokkos, das die Westsahara miteinbezieht. Gleichzeitig will man Algerien zeigen, dass Marokko die entscheidene Nation in dem Gebiet ist. Diese Rivalität merkt man auch in der Diskussion um Al Quaida in Maghreb. Beide Staaten versuchen sich bei der internationalen Staatengemeinschaft als Garant der Sicherheit darzustellen. Und natürlich geht es auch um Rohstoffe.

derStandard.at: Geopolitisch sind beide Länder als "gemäßigte muslimische Länder" sehr wichtig. Üben die USA deswegen keinerlei Druck auf Marokko aus, den Westsahara-Konflikt zu beenden?

Delius: Beide Länder haben derzeit einen etwas "seltsamen" Status und werden wie rohe Eier behandelt. Marokko und auch Indonesien sind für die USA als "gemäßigte" muslimische Staaten Schlüsselländer in der Anti-Terrordiskussion. Gleichzeitig will man aber auch Algerien nicht verärgern. Das erkennt man daran, dass Algerien ohne internationale Zwischenrufe Menschenrechtsverstöße begehen kann. Beide Länder werden hingegen hochgerüstet. Marokko von den USA, vor allem mit Flugzeugen. Algerien von Russland.

derStandard.at: Nutzt der Westsahara-Konflikt Al Quaida im Maghreb nicht eher?

Delius: Diese Diskussion ist heikel, weil auch Marokko immer wieder versucht Polisario (Volksfront zur Befreiung der Region, Anm.) in Zusammenhang mit Al Quida zu bringen. Das verleitet dazu, im Sinne der weltweiten Sicherheit auf Marokkos Vorschlag einzugehen und dem Gebiet nur innerhalb des Staates eine Autonomie zu verleihen (anstatt der geforderten Unabhängigkeit, Anm.). Diese Argumentation erfreut sich großer Popularität unter Antiterror-Experten. Man übersieht dabei aber, dass der Konflikt mit Al Quaida nichts zu tun hat, sondern überwiegend ein Streit um die Vorherrschaft der Region zwischen den beiden Hauptkontrahenten Algerien und Marokko ist. Al Quaida ist da eher eine Ablenkung vom Thema.

derStandard.at: Von europäischen Regierungen bzw. der EU wird immer wieder betont, wie wichtig die Lösung des Westsahara-Konfliktes ist. Trotzdem wird kaum Druck auf Marokko ausgeübt. Warum nicht?

Delius: De facto entscheidet die Realpolitik. Bei den USA ist diese bestimmt vom weltweiten Terror, bei den Europäern verlagert sich das auch auf Themen wie die Flüchtlingsströme. Ein wichtiges Moment: man will die Küsten vor der Westsahara in ein Fischereiabkommen mit der EU aufnehmen. Es wird allerdings bezweifelt, ob es völkerrechtlich zulässig ist, ein Abkommen über die Ressourcen in einem Kriegsgebiet abzuschließen. Außerdem gibt es zahlreiche Privatinteressen einzelner Staaten.

derStandard.at: Sie spielen vor allem auf Frankreich und Spanien an. Um welche "Privatinteressen" geht es genau?

Delius: Wirtschaftlich bestehen intensive Beziehungen zwischen Frankreich und Marokko, die in den letzten Jahren stark ausgebaut wurden. Auch existieren langjährige politische Kontakte. Man erinnere nur an Jaques Chirac, der sein Ferienhaus in Marokko hatte und jedes zweite oder dritte Wochenende auch dort war. Außerdem muss man auch an die große Anzahl der Marokkaner denken, die in Frankreich leben und arbeiten. Für die französische Industrie ist Marokko ein wichtiger Markt für Exporte in die gesamte arabische Welt. Frankreich nimmt Marokko quasi als Hinterhof an und versucht deswegen, alle internationalen Entscheidungen im Sinne des marokkanischen Königshauses zu beeinflussen.

Bei Spanien ist die Situation heikler. Spaniens marokkofreundliche Politik kommt eher aus einem gewissen Zwang heraus. Marokko hat gegenüber der ehemaligen Kolonialmacht eine sehr starke Position. Marokko kann Spanien mit Hilfe der spanischen Enklaven Melilla und Ceuta unter Druck setzen, indem es die Grenzen schließt oder die Versorgung behindert. Außerdem spielt das Flüchtlingsthema eine große Rolle. Man legt Spanien quasi nahe, sich "wohl" zu verhalten, ansonsten kommen noch mehr marokkanische Flüchtlinge auf die Balearen.

derStandard.at: Was haben die aktuellen Gespräche der Konfliktparteien bei den UN in New York gebracht?

Delius: Es sieht nicht so aus, als wäre man grundlegend weitergekommen, aber das war auch nicht zu erwarten. Nur wenige Tage vor der Gesprächsrunde hat Marokko ja angekündigt, dass es das Referendum weiter ablehnt. Aber es ist ingesamt gut, dass man miteinander redet. Die Gespräche müssten aber von einem stärkeren internationalen Druck begleitet werden, um eine Handlungsbereitschaft zu erreichen. Derzeit herrscht Stillstand. Wenn die Situation eskalieren sollte, was die Gewalt in der Westsahara betrifft, dann werden sicher mehr Staaten Druck ausüben. Das heißt nicht, dass wir uns mehr Gewalt in der Region wünschen. Aber die größte Gefahr für die Westsahara ist, dass man sie vergisst. Es handelt sich hier um einen der ältesten Entkolonialisierungskonflikte der Welt und irgendwann muss dieser Konflikt endlich einmal gelöst werden. (11.11.2010, derStandard.at)