Der Berliner Möbelhändler Rafael Horzon beschreibt in seinem Debütroman "Das weiße Buch" die Berliner Kunst- und Lebenskünstlerszene der 1990er-Jahre.

Foto: Patricia Woerler-Horzon

Wien - "Als Thomas Zipp seine erste Ausstellung in Guido Baudachs Galerie Maschenmode am anderen Ende der Torstraße hatte, gingen wir alle zur Eröffnung. In der ganzen Galerie hatte er alte Sofas, Anrichten und Schrankwände aufgestellt. Als genug Publikum erschienen war, ging er mit einem Kanister umher und übergoss die Möbel mit Benzin. Dann zündete er alles an. Panik brach aus. Glücklicherweise konnte das Feuer schnell wieder gelöscht werden. 'Schöne Arbeit, Thomas!', sagte Burkhard Riemschneider, der auch gekommen war. 'Hoffentlich macht er das nicht eines Tages auch in meinem Möbelladen!', dachte ich."

Wir befinden uns im Berlin der 1990er-Jahre. Diese Ära galt nicht nur als Hoch-Zeit für Schaumschläger, Angeber, Start-up-Unternehmer, Werbefuzzis, Künstlerdarsteller und für als Technomusiker getarnte Computerprogrammierer. Über deren Schaffen in den Clubs schreibt unser zitierter Autor Rafael Horzon an anderer Stelle so schön: "Interessiert lauschte ich ein wenig. Es waren die einzigen Momente meines Lebens, in denen ich ernsthaft über Selbstmord nachdachte."

Damals zwischen Spreeufer, Alexanderplatz, Friedrich- und Torstraße entstand auch der Mythos von "Mitte" als spaß-bohemistischer Kreativzelle Europas. In diesem dank billiger Mieten extrafeuchten bundesdeutschen Biotop waren die Grenzen zwischen Erfolg und Arbeitslosigkeit zwar immer fließend. Die Berliner Sängerin Christiane Rösinger (ehemals Lassie Singers) etwa verdichtete diesen Zustand in ihrem 2008 erschienenen Erinnerungsbuch "Das schöne Leben" in der berechtigten Frage: "Ist das noch Boheme oder schon Unterschicht?"

Rafael Horzon versuchte der finanziellen wie kreativen Bedeutungslosigkeit damals nach der Wende im rechtlich entschieden freieren Raum auf mehreren geschäftlichen Standbeinen Paroli zu bieten. Er war unter anderem Betreiber illegaler Clubbings und Galerien, in denen er lange vor dem Google-Zeitalter fiktive japanische Künstler Haushaltsgegenstände ausstellen und zu Höchstpreisen verkaufen ließ.

Horzon ist der Erfinder und Vertreiber des heute in Berlin weltberühmten Horzon-Bücherregals, einer auf Qualität setzenden Variation von Modellen des schwedischen Möbelriesen, die unter anderem auch die neuen Räumlichkeiten des Suhrkamp-Verlags behübschen.

Horzon gründete eine private Wissenschaftsakademie, die sich neben hochseriösen Themen immer wieder auch dem Schabernack widmete. Und Horzon arbeitete als Modeschöpfer, glorios gescheiterter Apfelkuchentycoon und ausgebildeter Paketfahrer der Deutschen Post.

Sein bei der Horzon-Möbelkundschaft Suhrkamp erschienenes literarisches Debüt "Das weiße Buch" liest sich vielleicht deshalb oft wie eine anfangs etwas bemüht originelle, bald allerdings unterhaltsame Fahrt aufnehmende Münchhausiade, weil er einerseits eine etwas altertümliche und bürgerlich umständliche Sprache verwendet. Andererseits liegt Horzons literarische Kunst darin begründet, dass er erst gar nicht so tut, als ob er von der Muse geküsst worden wäre. Hier ist nichts erfunden und deshalb fast alles wahr. Und Horzon ist ein Geschäftsmann. Dazu zählt jetzt auch der Verkauf von Büchern.

Der 40-jährige Horzon wird in aktuellen Rezensionen seines Romans gern mit einem weiteren belletristischen Debüt gekoppelt. Der 35-jährige "Internet-Guru" und Kommunikationsberater Sascha Lobo, der beim Weblog "Riesenmaschine" ebenso mitarbeitet wie bei der "Zentralen Intelligenz Agentur", war im Berlin der 1990er-Jahre Kreativdirektor einer Werbeagentur. Er kennt sich also mit der "Kreativbranche", der Internetblase, dünn machenden Drogen und Hochstapeleien bestens aus. Sein bei Rowohlt-Berlin erschienenes "Strohfeuer" tut so, als ob hier alles erfunden worden wäre. Deshalb ist es fast dokumentarisch geraten. Auch bei diesem hohen Hauptes mit einem lächerlichen roten Irokesen durch Berlin schreitenden Autor kann man sich glänzend unterhalten. Die Welt will betrogen werden. (Christian Schachinger / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 12.11.2010)