An Fruchtfliegen, Mäusen und Menschen untersuchten die Molekularbiologen die Variationen von Schmerzgenen und deren Wirkung auf Empfindungen.

Illustration: IMBA

Wien - In der traditionellen Psychologie werden sinnesspezifische Reizorgane auseinandergehalten: Rezeptoren im Auge sind zum Sehen da, die im Ohr zum Hören; andere sind für Schmerz zuständig. "Synästhesie" als Konzept scheint nur zu stören.

Nun haben aber österreichische und US-Forscher in einer Untersuchung von Schmerzempfinden festgestellt, dass ein dafür verantwortliches Gen im Zusammenhang mit eben dieser Synästhesie steht. Menschen mit dieser Fähigkeit empfinden also etwa Worte als Farben oder Klänge als Bilder und sind zudem überdurchschnittlich kreativ.

Etwa einer von fünf Erwachsenen leidet unter akuten oder chronischen Schmerzen. Dabei ist die Intensität, mit der Schmerz empfunden wird, von Mensch zu Mensch verschieden - wobei die genetische Veranlagung eine große Rolle spielt. Bisher sind die beteiligten Gene und die molekularen Mechanismen der Schmerzentstehung jedoch noch großteils unbekannt.

Ein Team um die Molekularbiologen Josef Penninger und Greg Neely vom Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien und den Neurobiologen Clifford Woolf von der Harvard Medical School veröffentlichte soeben ihre Suche nach Schmerzgenen in Cell. Sie untersuchten nahezu alle Gene der Fruchtfliege auf ihre Rolle bei der Schmerzempfindung und fanden rund 600, die an der Schmerzverarbeitung beteiligt sind. Eines ist für die Bewegung von Kalzium-Ionen durch Zellmembranen verantwortlich, ein Mechanismus, in den auch einige Schmerzmittel eingreifen.

An Freiwilligen, die genetische Varianten im Bereich dieses Gens aufweisen, wurde tatsächlich ein geringeres Schmerzempfinden festgestellt. An Mäusen mit Genmutationen wiederum wurde beobachtet, dass das Schmerzsignal zwar unverändert in einer ersten Schaltzentrale des Gehirns ankommt. Von dort wird es jedoch nicht in die Gehirnrinde weitergeleitet, wo der Schmerz erst bewusst wird, sondern in andere Gehirnregionen auf, die für optische, akustische, oder olfaktorische Eindrücke stehen. Offensichtlich sehen, hören oder riechen die genveränderten Mäuse den Schmerz, anstatt ihn zu fühlen.

Solche Synästhesie betrifft etwa vier Prozent der Bevölkerung. Sie ist laut IMBA erblich und wird mit gesteigerter Intelligenz und Kreativität in Verbindung gebracht. "Diese Ergebnisse kamen für uns völlig unerwartet", erklärte Penninger in einer Aussendung, "wir haben vermutlich das erste Tiermodell zur Hand, an dem sich Synästhesie studieren lässt - ein neuer Zweig der Neurobiologie."

Die Wissenschafter sagen, sie hätten hunderte neue Kandidaten-Gene für Schmerzwahrnehmung identifiziert, und viele davon würden sie beim Menschen wiederfinden. "So können wir das Phänomen Schmerz auf molekularer Ebene verstehen." Penninger rechnet langfristig mit der Entwicklung neuer Schmerzmedikamente und der Möglichkeit, individuelle Vorhersagen über das Schmerzrisiko von Patienten treffen zu können. (APA, mf, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 12. November 2010)