Mit seinen provokanten Thesen wirft der türkische Botschafter Kadri Ecvet Tezcan brisante Fragen auf: Wollen sich viele Türken hierzulande nicht integrieren? Oder werden sie von den Österreichern nicht gelassen?

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Wien - "Diese Aussage ist Unsinn": Josef Kohlbacher ist kein Politiker, trotzdem schüttelt er über den türkischen Botschafter den Kopf. Der Soziologe greift eine der Thesen an, mit denen der Diplomat Tezcan eine hitzige Debatte angezettelt hat: "Wenn Türken in Wien Wohnungen beantragen, werden sie immer in dieselbe Gegend geschickt", meinte er in der Presse.

Wer mit offenen Augen durch die Stadt spaziert, könnte Tezcan glatt recht geben: Zwar haben nur 4,3 Prozent der Wiener türkischen Migrationshintergrund, sind also türkische Staatsbürger oder in der Türkei geboren. Doch in Grätzeln wie dem Brunnenmarkt kommt man ohne deutsches Wort durch. "Ghettos sind diese Viertel dennoch nicht", sagt Kohlbacher: Die Bevölkerung sei ethnisch viel stärker durchmischt als etwa in französischen Vorstädten.

Zehn Prozent der Wohnungen für Nicht-EU-Bürger

Ein Grund sind die 220.000 Gemeindewohnungen, die seit 2006 Nicht-EU-Bürgern offen stehen, die mindestens fünf Jahre in der EU gelebt haben. Zehn Prozent von 11.000 neu vergebenen Wohnungen im Jahr gehen an diese Gruppe - offiziell nach den gleichen Kriterien wie für Österreicher. Der Experte Kohlbacher erkennt keine Evidenz, daran zu zweifeln. Ebenso wenig sieht er, dass die Stadt Ausländerquartiere bei ihren Erneuerungsprogrammen benachteilige. Am privaten Wohnungsmarkt würden Zuwanderer gelegentlich wohl auch diskriminiert; entscheidend für die Konzentration in abgehausten Gründerzeitvierteln seien aber die niedrigen Mieten.

Armutsgefährdung deutlich höher

Auf diese sind Türken oft angewiesen. In sozialen Charts ist die drittgrößte Immigrantengruppe Nachzügler: Die Arbeitslosenquote ist mit 14 Prozent ebenso höher als bei den Einheimischen (6,7 Prozent) wie die Armutsgefährdung (26 zu 12 Prozent). Nur 54 Prozent sind erwerbstätig.

Wurzel des Problems: Die ersten Gastarbeiter aus Anatolien waren ärmer und schlechter gebildet als etwa ihre jugoslawischen Kollegen - diesen Rückstand konnten die Kinder nie aufholen. Immer noch drei Viertel der türkischen Erwerbstätigen haben nur Pflichtschulabschluss, bei den Österreichern sind es 18 Prozent.

Muss kein internationaler Trend sein

Dies sei aber kein Naturgesetz, sagt die Immigrationsforscherin Barbara Herzog-Punzenberger. In Ländern wie Schweden oder Frankreich seien Kinder von türkischen Eltern mit niedrigem Bildungsniveau deutlich erfolgreicher: Die Zahl jener, die es nicht über die Pflichtschule hinaus schaffen, ist hierzulande um bis zu 20 Prozent höher. "Österreichs System hält das Elternhaus für den besten Ort für die Kinder. Die Bildungschancen werden massiv weitervererbt", kritisiert Herzog-Punzenberger und fordert mehr Ganztagsschulen, mehr Kinderbetreuung und die Gesamtschule.

Hemmt nicht auch türkischer Traditionalismus den Aufstieg, gerade von Frauen? Einerseits kämen Mädchen mit ihrer anerzogenen angepassten Art in den Schulen besser zurecht, sagt die Forscherin. Andererseits beenden sie aber häufiger als Burschen ihre Bildungskarriere nach der Pflichtschule.

Schulleiter bestätigen Vorurteile nicht

Dass türkischstämmige Mädchen von den Eltern so rasch wie möglich, mitunter in schulpflichtigem Alter, aus den Schulen genommen würden, wie Botschafter Tezcan andeutete, können oder wollen Schulleiter aber nicht bestätigen. Ein Direktor erinnert sich an ein junges Mädchen, das in die Türkei geschickt wurde, um eine Webschule zu besuchen und auf die Ehe vorbereitet zu werden. Das seien jedoch Einzelfälle. Auch am Wiener Stadtschulrat widerspricht man Tezcans Meinung.

Die größte Auffälligkeit der türkischen Immigranten seien vielmehr die mangelhaften Deutschkenntnissen, sind sich die Pädagogen einig. Gut die Hälfte seiner in Österreich geborenen Schüler mit türkischen Wurzeln könne weder richtig lesen noch schreiben, erzählt ein Sozialarbeiter aus einer Wiener Hauptschule. Der gesamte Alltag würde in der türkischen Muttersprache vollzogen - und nicht einmal die würden die Kinder richtig beherrschen. 90 Prozent der Eltern könnten kein durchgehendes Gespräch mit ihm führen, obwohl sie seit Jahrzehnten in Österreich leben.

Neue Zuwanderer womöglich schlechter integriert

Christine Zeiler, Direktorin an einer Wiener Mittelschule, hat den Eindruck, dass "Familien, die in den letzten Jahren nach Österreich gekommen sind, schlechter integriert sind". Auch muttersprachlich stünden viele Eltern auf sehr einfachem Niveau - vor allem, wenn man sie mit den türkischen Einwanderern der vorherigen Generationen vergleiche. (Julia Herrnböck, Gerald John/DER STANDARD, Printausgabe, 12. November 2010)