Österreicher und Türken sind stolz und leicht beleidigt. Sie fühlen sich von der Welt missverstanden (Österreich: Waldheim, EU-Sanktionen wegen Haider; Türkei: Mord an den Armeniern, vieles, was mit dem Islam zu tun hat). Sie neigen daher zu Selbstüberschätzung, aber auch zu wehleidiger Nabelbeschau. Beide Länder waren vor 100 Jahren noch große Reiche, haben immer noch immense Kulturschätze, waren während eines großen Teils des 20. Jahrhunderts ganz unten, haben sich aber wieder hinaufgearbeitet.

Aber: Die Türkei ist international wichtig, Österreich nicht. Aus dieser seelischen Gemengelage erklärt sich das berühmte Presse-Interview des türkischen Botschafters. Er ist ziemlich typisch für die Haltung der regierenden türkischen Eliten: fleißige, fromme Mittelschichtler (aus Zentralanatolien), die sich von der korrupten, verwestlichten Oberschicht und den Atatürk-Urenkeln im Militär abgrenzen wollen. Sie betrachten sich als die eigentlichen Träger des Staates. Sie wollen die Türkei technokratisch modernisieren, aber gesellschaftlich konservativ halten: Ministerpräsident Erdogan hat seine Tochter mit 15 verheiratet, Staatspräsident Güls Frau war bei der Hochzeit auch 15.

Sie sind an der EU nur noch bedingt interessiert und wollen jedenfalls in einer unruhigen Nachbarschaft (Macht-)Politik betreiben. Erdogan hat mehrfach gesagt, dass die EU nur mit der Türkei und ihrer großen Armee eine wirkliche Weltmacht wäre. Das große Missverständnis dabei: Die meisten Europäer sind an Weltmachtspielen nicht (mehr) interessiert. Und sie betrachten mit Unbehagen den Krieg, den diese Armee gegen die kurdische Bevölkerung führt.

Führungsleute wie Botschafter Tezcan wissen um die Rückständigkeit in den riesigen Gebieten des ländlichen Anatoliens (die sich in den Einwanderergesellschaften in Deutschland und Österreich fortsetzt) und um die (zu) große Rolle der Religion. Sie fühlen sich aber verpflichtet, das zu verteidigen. Tezcan: "Wir haben nicht diese (westliche) merkantilistische Philosophie. Unsere Philosophie im Islam lautet anders: Was immer du hast, von Gott gegeben, ist genug für dich."

Islam: Erdogan & Co behaupten immer, der "Christen-Klub Europa" wolle die Türkei wegen des Islams nicht. Aber Europa ist säkular, nicht mehr "christlich" in diesem Sinn. Man hat nicht die Dominanz der Kirche überwunden, um nun zig Millionen hereinzuholen, für die die Religion die oberste Instanz ist.

Dazu kommt das Unbehagen über den türkischen Nationalismus. Der Botschafter spricht von "seinen" 250.000 Türken in Österreich, obwohl 110.000 schon unsere Staatsbürgerschaft haben. Und das Unbehagen über die Tiefenstrukturen des türkischen Staates mit Geheimbünden in Polizei und Militär, Verfolgung von kritischen Minderheiten, autoritärem Denken, Homosexuellen-Hatz, politischen Morden etc. Klartext: Die Türkei ist (noch) keine Demokratie nach (west-)europäischem Standard.

Aber die Türkei und Europa haben ein dichtes Beziehungsgeflecht miteinander: die Zuwanderer, die wirtschaftliche Verflechtung, die - teils problematische - Geschichte. Von diesem Punkt aus ist eine neue Politik sowohl gegenüber der Türkei als auch den Zuwanderern zu entwerfen. (Hans Rauscher, DER STANDARD-Printausgabe, 13./14.11.2010)