Dietrich Grönemeyer (58) ist Arzt und Lehrstuhlinhaber für Radiologie und Mikrotherapie an der Universität Witten/Herdecke. Er ist der Bruder des Sängers Herbert Grönemeyer.

Arzt, Radiologe und Buchautor Dietrich Grönemeyer, Bruder des Sängers, erklärt Anatomie und Funktion des Herzens: Kultur- und Geistesgeschichte ist dabei inklusive.

Dietrich Grönemeyer. Dein Herz. S. Fischer Verlag 2010, 382 Seiten, 22, 95 Euro.

Foto: pia

Standard: Sie sind Radiologe, machen aber immer wieder Ausflüge in andere Bereiche der Medizin. Mit welchem Selbstverständnis schreiben Sie?

Grönemeyer: Das "Rückenbuch" habe ich als Arzt geschrieben, das Buch "Dein Herz" auch als betroffener Patient. Ich will mich keineswegs zum "Herzspezialisten" im medizinischen Sinn aufschwingen. Ich bin kein Kardiologe. Aber ich habe selbst erfahren müssen, was eine Herzkrankheit bedeutet, mit welchen Ängsten, Schmerzen und existenziellen Erschütterungen sie verbunden ist. Meine eigene Herzmuskelentzündung hat mich veranlasst, über das Herz nachzudenken. Ich wollte wissen, was es mit diesem zentralen Organ unseres Lebens auf sich hat, nicht nur in der Anatomie, sondern auch in unserem Seelenleben, in der Geistes- und Kulturgeschichte. Immerhin beschäftigen sich Mythen und Religionen, Künstler und Philosophen seit Jahrtausenden mit dem Herzen. Und nicht selten konnten die Ärzte davon profitieren.

Standard: Der Untertitel Ihres Buches ist: "Eine andere Herzgeschichte". Warum?

Grönemeyer: Unser Herz ist viel mehr als eine Pumpe. Das wurde mir nicht im Medizinstudium vermittelt. Inzwischen weiß ich, dass das Herz in unmittelbarer Verbindung mit unserem denkenden und fühlenden Wesen steht. Wir müssen wegkommen von der rein mechanischen Sichtweise und mehr den psychosomatischen und psychosozialen Kontext begreifen.

Standard: Für wen haben Sie dieses Buch geschrieben?

Grönemeyer: Ich versuche, komplexe Zusammenhänge gut verständlich und dennoch vielschichtig darzustellen: medizinisch, historisch, künstlerisch, philosophisch und psychologisch. Als ehemals Betroffener weiß ich, wie allein man sich mit Herzschmerzen fühlen kann. Mit der Beschreibung meines persönlichen Erlebens möchte ich Betroffenen die oftmals bedrohlich empfundene Angst vor ihrer Erkrankung nehmen oder Nicht- und Leichterkrankte zur Vorsorge ermuntern. Dazu werden Basiswissen und Grundinformationen vermittelt, sodass das Buch zugleich als Ratgeber und Nachschlagwerk zu nutzen ist. Darüber hinaus hoffe ich, Ärzte zu einer ganzheitlicheren Betrachtung des Herzens zu ermuntern.

Standard: Herzmedizin ist heute doch großteils Hightechmedizin?

Grönemeyer: Nicht in jedem Fall ist dem erkrankten oder bedrückten Herzen allein mit dem Methoden der Hightechmedizin zu helfen; das Organ braucht ebenso einfühlendes Verständnis. Andererseits ist damit nichts gegen den technologischen Fortschritt in der Medizin gesagt. Als Radiologe weiß ich, welche Bedeutung dem zukommt. Gerade bei der Behandlung von Herzkrankheiten hat er unzähligen Menschen das Leben gerettet. Die Herztransplantation ist eine der größten Errungenschaften. Unschätzbares verdanken wir dem Einsatz von Herzkathetern, müssen aber auch sehen, dass die massenhafte Anwendung gerade dieser Behandlungsmethode durchaus problematisch ist. Über eine Million Herzkatheter pro Jahr allein in Deutschland - Tendenz steigend - sind einfach nicht angemessen, untragbar für die Gesellschaft und nur allzu oft eine unnötige Belastung des Patienten. Ihnen wäre in sehr vielen Fällen mit einem empathischen Herz-Verständnis durch den Arzt besser geholfen.

Standard: Sind Patienten mit Halbwissen nicht für Ärzte eine Belastung. Wie erleben Sie das?

Grönemeyer: Ich freue mich über mündige Patientinnen und Patienten. Viele wissen sehr gut über ihre Erkrankung Bescheid. Das heißt sie können die jeweilige Therapie auch mit sehr viel mehr Verständnis begleiten.

Standard: Können Laien ein so komplexes Organ wie das Herz überhaupt erfassen?

Grönemeyer: Aus meiner Sicht ja, wenn es ihnen gut erklärt wird. Denken Sie nur an die vielen Herz- und Selbsthilfegruppen, welches Wissen da vermittelt wird. Schwierig sind die Patienten, die eine so festgelegte Meinung über ihre Erkrankung haben, dass es ihnen schwer fällt, zuzuhören. Dies erlebe ich allerdings selten.

Standard: Sollten Hypochonder das Buch lieber nicht lesen?

Grönemeyer: Mein Ansatz ist, Mut zu machen, sich mit dem eigenen Körper zu beschäftigen - und nicht erst dann, wenn "etwas" nicht mehr funktioniert.

Standard: Ärzte haben systembedingt immer weniger Zeit. Wird Gut-informiert-Sein immer wichtiger?

Grönemeyer: Ja. Je mehr die Patienten wissen, umso besser können sie ein Gespräch mit dem Arzt führen. Das heißt aber auch, dass wir Ärzte uns konsequent um Aufklärung bemühen müssen. Seit Jahren plädiere ich für die Einführung eines Gesundheitsunterrichts an Grundschulen.

Standard: Gibt es Dinge, die Sie als Arzt auch nach der Recherche zu diesem Buch nicht verstehen?

Grönemeyer: Warum das Herz anfängt zu schlagen, das ist letztlich für mich eines der größten Wunder geblieben. Wir können uns das bis heute nicht ganz erklären.

Standard: Sie geben in Ihrem Buch auch praktische Tipps, etwa zur Ernährung. Aus welchen Quellen haben Sie die?

Grönemeyer: Dazu müsste ich jetzt vieles aufzählen, das Literaturverzeichnis des Buches umfasst viele Seiten. Lassen Sie mich nur auf drei Quellen hinweisen, die jedem über das Internet zugänglich sind: European Society of Cardiology, Deutsche Gesellschaft für Kardiologie und Deutsche Gesellschaft für Ernährung.

Standard: Sind es nicht gerade auch solche Tipps, die Sie angreifbar machen? Von Ärztekollegen werden Sie doch auch oft kritisiert.

Grönemeyer: Es mag sein, dass nicht jeder in der Vergangenheit die Naturheilkunde so ernst genommen hat, wie ich das seit langem tue. Aber wir würden als Schulmediziner - und ich bin ein bekennender Schulmediziner - einen großen Fehler begehen, wenn wir Methoden der Naturheilkunde nicht nutzen würden, wo sie helfen können. Mit dogmatischer Abgrenzung zur jeweils anderen Seite ist keinem geholfen, den Schulmedizinern so wenig wie den Naturheilkundlern, und schon gar nicht den Patienten.

Standard: Was zeichnet einen guten Kardiologen aus?

Grönemeyer: Ich suche immer einen Arzt, der kompetent ist, der aber auch "meine Sprache spricht". Nur so entsteht wirkliches Vertrauen. Und dann hat der Arzt die besten Voraussetzungen, psychosomatische Zusammenhänge zu erkennen, und darauf kommt es an, gerade bei der Behandlung des Herzens. (Karin Pollack, DER STANDARD Printausgabe, 15.11.2010)