Olivia (Ninja Reichert) trägt ihre verletzte große Liebe, Adam (Werner Halbedl), nach einem missglückten Banküberfall.

Foto: Drama Graz

Ein poetischer Text über das Tabu Inzest wurde leider weniger poetisch inszeniert.

Graz – "Liebe ist die einzige Möglichkeit, uns zustande zu bringen", sagt Olivia am Ende ihres Lebens, das Ernst M. Binder in seinem Stück Die Flucht der Wolken vor der Archivierung erzählt. Olivia (Ninja Reichert) und Adam (Werner Halbedl) können, nachdem ihre Liebe zueinander erwacht ist, nicht mehr ohne einander existieren, aber sie dürfen es auch nicht miteinander. Denn, wie das Publikum erst in der Mitte des Abends, den Binder auch inszeniert hat, erfährt: Adam und Olivia verbindet nicht nur eine große Liebe, sie haben auch dieselben Eltern.

Ihr Verhältnis treibt die beiden, nachdem sie von Olivias Ex-Freund Paul, der als Figur nicht auftritt, entdeckt und angezeigt werden, auf die Flucht. Hier tritt skurrilerweise Binder kurz als er selbst auf, um Pauls Verhalten zu kommentieren.

Über verschiedene Kontinente jagt das Gesetz dann das Paar – der jeweilige Ort wird auf einem Fernseher auf dem ansonsten leeren Bühnenraum eingeblendet. Es gibt keinen Staat, an dem sie nicht ein Paragraf einholt. Dabei tritt der anfangs dominante Text, mit dem Binder gewohnt poetisch und doch klar Emotionen skizziert, in den Hintergrund. Stattdessen keimt zwischen Gesangseinlagen und einem missglückten Banküberfall unerwartete, fast unpassende Heiterkeit auf. Das Spiel von Reichert und Halbedl kann diesem Wechsel nicht überzeugend folgen.

Zuletzt setzt das Liebespaar seinem Leben ein Ende – dort wo andere heiraten dürfen, in Las Vegas.

Ernst M. Binder gelingt es mit seinem Stück, Irritation und Ekel, die sich angesichts von Inzestgeschichten unweigerlich einstellen, überwindbar zu machen. Nicht nur, weil dieser Aspekt der Liebe zwischen Olivia und Adam lange Zeit verschwiegen wird, sondern weil Binder ihre Liebe zusätzlich auf ein Podest hebt, indem er sie mit einer anderen, realen, aber nicht inzestiösen Liebe vergleicht: mit jener des französischen Sozialphilosophen André Gorz und seiner Frau Dorine. Das Ehepaar töte sich bekanntlich 2007 gemeinsam, weil keiner der beiden nach über 50 Ehejahren ohne den anderen weiterleben wollte. Olivia und Adam lesen aus Brief an D. Geschichte einer Liebe, dem letzten Buch von Gorz.

Als Epilog wird per Video ORF-Moderator Hans Georg Heinke zugespielt: Er berichtet von der Selbsttötung des Ehepaars Gorz und bringt sie mit Binders Stück in Verbindung. Ein Einfall, der nicht notwendig gewesen wäre in diesem Plädoyer für die Liebe. (Colette M. Schmidt, DER STANDARD – Printausgabe, 15. November 2010)