Alban Bergs Lulu blieb ja unbeendet. Friedrich Cerha vollendete das Werk 1979 nach überlieferten Skizzen, was seither von der Praxis der Opernhäuser honoriert wird. Die dreiaktige Cerha-Fassung hat sich nahezu durchgesetzt. In Kopenhagen trat heuer der deutsche Komponist und Projektemacher Eberhard Kloke aber quasi gegen diese Version an.

Wo Cerha einen großen musikalisch dramatischen Opernbogen zu schließen versucht, setzt die Neufassung von Kloke mehr auf den Charme des Unvollendeten, lässt die Lücken als solche erkennbar. Er bringt das Vorhandene in die Form von sparsamen Piano-, Violinen- oder Akkordeonklängen. Dirigent Michael Boder widmete sich mit Sorgfalt auch diesen neuen Passagen. Mag ja sein, dass diese Variante eine Chance hat. Für den Opernfreund ohne Forscherehrgeiz eröffnet sich mit Klokes Bearbeitung aber nicht gleich ein ganz neues Lulu-Universum.

Regie führte der in Deutschland gerade zum aktuellen Regisseur des Jahres gekürte Stefan Herheim. Seine Lulu hat immer einen Auftritt vor einem realen oder imaginären Publikum. Es gibt immer eine Bühne in der innen mit schlichten Brettern und außen mit durchscheinendem Kunststoff verkleideten Manege, die Heike Scheele diesmal für den norwegischen Bühnenzauberer auf die Drehbühne gesetzt hat. Mit Vorhang und Prospekt. Sogar im Salon von Dr. Schön, in dem sich Lulu zumindest für einige Momente ganz bürgerlich gibt.

Vorher konnten wir aus der Backstage-Perspektive dieser Bühne live miterleben, wie sie bei ihrem Auftritt im Varieté mit einer fingierten Ohnmacht diesen Dr. Schön (souverän: Johan Reuter) unmöglich macht, um ihn dazu zu bringen, seine Verlobte (im wahrsten Wortsinn) zu opfern. Hier verdeutlicht Herheim, indem er auch zeigt, wovon sonst nur die Rede ist. Und doch ist er insgesamt nicht auf Klarheit aus, sondern will das Maskenhafte, Unwirkliche und Lächerliche jeglichen Gefühls zeigen. Die lebensgroßen Lulu-Porträts aus dem (angedeuteten) Atelier des Malers zeigen sie in den Kostümen ihrer verschiedenen Lebensrollen. Dabei ist dieses Leben von Anfang an auch ein Totentanz.

Gerippe im Brautkleid

Wenn der alte Schigolch (Sten Byriel) Lulu aus dem Gefängnis heimbringt, dann hat er ein Gerippe im Brautkleid auf dem Arm, und irgendwann hängt dieses Gerippe auf dem Lulu-Schriftzug aus bunten Lämpchen, der über dieser Manege prangt. Eine Truppe von weiß geschminkten Clowns ist Lulus eigentliches Publikum. Und jeder ihrer Männer, der sein Leben verliert, verstärkt diese Truppe. An einem Schminktisch werden sie nach ihrem Tod alle für ihre neue Rolle zurechtgemacht.

Während Herheim den alten Schigolch mit einem metaphorischen Klumpfuß gen Schnürboden entschwinden und dann von dort auch wieder niederfahren lässt, ihn also ins Teuflische überhöht, zeigt er Alwa (intensiv eloquent: Johnny von Hal) als eine Art Alter Ego des Komponisten. Dem kann man dabei zusehen, wie er aus dem gerade Erlebten eine Oper macht. Dieses selbstreferenzielle Spiel hat Witz, besonders wenn Alwa zu Beginn des dritten Aktes vor der Clownskapelle wie ein Double des Dirigenten den Taktstock schwingt und alle vom Blatt singen. Das trägt als Anspielung auf das Nachleben des Fragments selbst dann noch, wenn es nach Alwas, also des Komponisten, Tod weitergeht.

Herheim scheut sich nicht davor, das Clowneske so weit in die pure Albernheit zu überspitzen, dass berührenden Szenen, wie denen von der geschlagenen Lulu zwischen lauter grauen Männern mit Regenschirmen im London-Bild, kaum Raum zur Entfaltung bleibt. Der einhellige Schlussbeifall belohnte natürlich auch Sine Bundgaard für ihre souveräne Lulu gebührend. Welche Chancen die Kloke-Variante des dritten Aktes hat, wird die Opernpraxis erst zeigen müssen. (Joachim Lange, DER STANDARD - Printausgabe, 15. November 2010)