Das Netz der Nervenzellen, die an der Oberfläche der Fliegenlarve auf Licht, Druck und Hitze reagieren.

Foto: Ch. Han, UCSF

San Francisco - Ein fauler Apfel, Fallobst irgendwo auf einer Obstwiese oder vergessen in irgendeiner Küche: für Menschen keine appetitliche Angelegenheit, für Fliegen der Gattung Drosophila jedoch ein Schlaraffenland. Die Gammelfrucht dient sowohl den erwachsenen Mini-Insekten wie auch ihrem Nachwuchs als Speise. Nach dem Schlüpfen bohren sich die Larven umgehend in das gärende Fruchtfleisch. Dort drinnen sind sie sicher und versorgt. Licht? Nein danke. Licht bedeutet Sichtbarkeit, und wer gesehen wird, wird oft gefressen.

Obwohl sie noch nicht wie ihre Eltern mit komplexen Facettenaugen ausgestattet sind, verfügen Drosophila-Larven bereits über primitive augenähnliche Strukturen mit jeweils zwölf lichtempfindlichen Zellen, die vorn am Kopf sitzen. Diese sogenannten Bolwig-Organe helfen den Maden, das Tageslicht zu meiden. Doch damit nicht genug. Als der Physiologe Yuh Nung Jan von der University of California in San Francisco zusammen mit einigen Kollegen mit Taufliegen-Mutantenlarven ohne Bolwig-Organe experimentierte, machten die Forscher eine erstaunliche Entdeckung. Die blinden Tierchen krochen genauso vor Licht davon wie ihre normal gebauten Artgenossen.

Das Team um Yuh Nung Jan machte sich an die Arbeit, um die Ursache des seltsamen Phänomens zu ergründen. Weitere Versuche zeigten, dass die Larven stark auf Licht mit kürzeren Wellenlängen - blau, violett und ultraviolett - reagierten, aber kaum auf einen grünen oder roten Strahl. Die Wärme des Lichts war also nicht der Auslöser für die Fluchtreaktion. Offensichtlich besaßen die Tiere ein noch unbekanntes System zur Lichtwahrnehmung.

Das Team bekam einen Verdacht. Bei augenlosen Fadenwürmern der Art Caenorhabditis elegans fanden Biologen vor einigen Jahren lichtempfindliche Nervenzellen. Möglicherweise verfügten die Drosophila-Larven über einen ähnlichen Mechanismus. Und tatsächlich konnten die Physiologen die Erregbarkeit von Maden-Neuronen der Klasse IV durch Licht mittels Fluoreszenz-Markierung nachweisen. In den lichtempfindlichen Neuronen dürfte ein Gen aktiv sein, dessen Sequenz dem des Sehpigment Rhodopsin ähnelt, schreiben die Forscher in Nature (11. 11., online).

Unentdeckte Errungenschaft

Die Vorteile dieser Form der Lichtwahrnehmung liegen auf der Hand. Die Klasse-IV-Nervenzellen decken die gesamte Haut der Drosophila-Larven ab. Wenn sie mit dem Kopf in der Nahrung wühlen, sind die Bolwig-Organe aus dem Licht, aber nicht notwendigerweise der Rest des Körpers. Solange davon nur das kleinste Stückchen zu sehen ist, melden dies die IVer-Neuronen. Die Made spürt: Sie muss sich tiefer eingraben.

Die lichtempfindlichen Nervenzellen nehmen allerdings nicht nur optische Reize wahr. Sie reagieren auch auf Hitze und Druck und dienen deshalb wohl allgemein der Warnung vor Bedrohungen. "Diese Neuronen sind richtig multifunktional", erklärt Yuh Nung Jan im Gespräch mit dem STANDARD. Es sei gut möglich, dass sich das Prinzip der lichtsensiblen Haut auch bei vielen anderen wirbellosen Tierarten als bislang unentdeckte Errungenschaft der Evolution findet. (Kurt de Swaaf/DER STANDARD, Printausgabe, 16.11.2010)