Noch 14 Sekunden, 13, 12, der Countdown läuft. Die Trauben von Fahrrädern und lautlos anrollenden Elektromopeds, die schon jetzt bei Rot abbiegen, toleriert der Traffic-Assistant stillschweigend. Was soll er tun, ein Mann in lächerlicher Uniform allein an einer achtspurigen Kreuzung in Schanghai, das ist auch eine Art von Arbeitsbeschaffungsmaßnahme.
Springt die Ampel um, setzt sich auch ein Strom von Limousinen in Bewegung, Kleinwagen werden hier kaum gefahren. Umgerechnet 5000 Euro Minimum kostet ein Kennzeichen in der Boomtown Schanghai, das ist mehr als doppelt so viel wie das durchschnittliche Jahreseinkommen. 6000 neue Kennzeichen im Monat insgesamt werden an die jeweils Meistbietenden versteigert, da wird man doch beim Auto selbst nicht knausern. Die eigenwillige Maßnahme, die eingeführt wurde, um dem Verkehrschaos und der Umweltbelastung in der 20-Millionen-Stadt Herr zu werden, scheint zu greifen, die Smogsituation ist besser als vor zehn Jahren.
Das U-Bahn-Netz wurde massiv ausgebaut und umfasst jetzt mehr als 400 Kilometer in einem Stadtgebiet, dessen Größe zu erahnen dem gelernten Europäer schwerfällt. Der U-Bahn-Bau hier ist eine Meisterleistung der Ingenieurskunst, denn die Hafenstadt Schanghai, in einem Delta am ostchinesischen Meer gelegen, ist auf Schwemmboden gebaut. Bis vor wenigen Jahren war nur die Westseite des Huangpu-Flusses besiedelt, die andere Seite säumten Reisfelder und armselige Dörfer. "Besser ein Bett auf der Westseite als ein Haus auf der Ostseite", sagt ein Sprichwort in der Stadt. Dies hat sich in den letzten 15 Jahren massiv geändert.
In einer gewaltigen Kraftanstrengung und mit der Macht der Planwirtschaft wurde der neue Stadtteil Pudong aus dem Boden gestampft. Neben dem wegen seiner Form Flaschenöffner genannten fünfthöchsten Gebäude der Welt, das dem neuen Viertel prestigeträchtig vorsteht, sieht der alte Fernsehturm von 1995, einst stolzes Wahrzeichen, schon alt aus. Nur im stadteigenen Museum of Urban Planning hat er im Eingangsfoyer noch seine zentrale Rolle inne: Hier überragt er im Modell gülden die ehrgeizigen Neubauten. "Das stimmt zwar nicht, sieht aber schöner aus", sagt die Touristenführerin, die sich der Einfachheit halber Lilly nennt. Das stimmt zwar nicht, ist aber leichter auszusprechen.
Schäfchenwolken
Den schönen Schein zu wahren ist ganz entscheidend wichtig für die Chinesen. Riesenbaustellen liegen hinter dicken Mauern verborgen, die mit bunten Folien beklebt sind, darauf blauer Himmel und Schäfchenwolken. Die Immobilienpreise in dem Land, in dem es erst seit 2003 wieder ein Recht auf Eigentum gibt, haben sich in den letzten Jahren verzehnfacht, rund 3000 Euro pro Quadratmeter zahlt man in Pudong, in den besten Lagen auch bis zu 20.000. Wer früh genug Eigentum erwarb, die erste Wohnung verkaufte und damit die nächsten zwei finanzierte, konnte hier in kürzester Zeit ein Vermögen machen, erzählt einer, der sich mit Übersetzungen sein Brot verdient und nur eine Wohnung in einem Hochhaus besitzt, das schon in den 70er-Jahren gebaut wurde. Inzwischen seien Kredite weniger leicht zu bekommen, die Spekulation solle eingedämmt werden.
Gebaut wird trotzdem wie wild. Noch vor zehn Jahren lagen unter den gewaltigen Stützen der Stadtautobahn die alten Viertel da wie pulsierende Miniaturwelten, während oben, auf der zweiten Ebene, die funkelnden Hochhäuser in den Himmel ragten. Jetzt sind sie am Verschwinden, die Garküchen und Minigeschäfte, sie müssen den Neubauten weichen, werden an den Stadtrand gedrängt. Allein für die Expo wurden an die 18.000 Haushalte umgesiedelt in ein angeblich besseres Leben mit fließendem Wasser und Toiletten. Dass sich China gerne fortschrittlich, sauber und ökologiebewusst präsentieren möchte, zeigten auch die Aufschriften in all den zahlreichen Bedürfnisanstalten auf dem Expo-Gelände: "Das Klopapier stammt nicht von Bäumen, sondern von recycelten Milchpackungen" stand da für 73 Millionen Besucher deutlich zu lesen.
Und doch kann man es noch finden, das alte Schanghai, die kleinen Gassen, in denen die Baozi, die gefüllten Teigtaschen, um umgerechnet ein paar Cent verkauft werden. Die Minilokale mit vier, fünf Tischen haben meist nur eine chinesische Speisekarte, aber dafür kann man der Nudelköchin über die Schulter schauen. Ein paar Ecken weiter sitzen zwei Männer auf der Straße und lassen ihre Grillen miteinander kämpfen. Die Tiere werden vorsichtig aus geschnitzten Holzkästchen gehoben und in eine Plastikbecher-Arena gesetzt, wo das stärkere das schwächere in die Ecke treibt. Bevor noch Schlimmeres geschieht, wird der Verlierer herausgehoben und ein neuer Herausforderer eingesetzt.
Und noch eine liebenswerte "Grille" hat sich in der Stadt erhalten. Obwohl es kaum irgendwo in China so wichtig ist wie in Schanghai, die coolsten Klamotten zu tragen und modisch und elegant aufzutreten, gehen die Frauen hier schon einmal im Pyjama auf die Straße. Und das wohlgemerkt zu jeder Tageszeit. Im eigenen Wohnviertel ist das auch heute noch nicht unüblich, die guten Sachen sollen ja schließlich geschont werden.
Bei der großen Bedeutung, die modische Kleidung hier spielt, ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass nur die Touristen den alten Stoffmarkt frequentieren. In dem mehrstöckigen Geschäftshaus kann man sich um wenig Geld Anzüge und Hemden maßschneidern lassen, ein Service, das bei den jungen Chinesen, die sich das leisten könnten, nicht gefragt ist. In einem Land, in dem man bis vor wenigen Jahren nur mit Einkaufsmarken Stoffe zugeteilt bekam, ist es wesentlich hipper, in den schicken Designläden in der französischen Konzession die neuesten Kollektionen der in- und ausländischen Designer einzukaufen.
Wenig geändert hat sich hingegen in den großen Volksparks, die es in Schanghai gibt. In einer Stadt, in der durchschnittlich neun Quadratmeter Wohnfläche auf einen Einwohner kommen - in den 50er-Jahren waren es noch drei - weichen viele in den öffentlichen Raum aus. Im Heping-Park wird schon am frühen Morgen Tai-Chi praktiziert.
Der bewachte Fahrradparkplatz vor dem Park kostet 0,5 Yuan, alles andere gibt es gratis. Die gewundenen Wege, Wasserflächen und Pavillons zum Flanieren und Pausemachen. Die Wiese zum Drachensteigenlassen, wo klassische Goldfischmotive mit "Hello-Kitty-Drachen" um die Wette flattern, der asphaltierte Platz, auf dem eine Frau mit Racket und Ball an einer Schnur gegen sich selber Tennis spielt.
Gleich im Eingangsbereich stellt sich am frühen Nachmittag ein Mann mit Kassettenrekorder hin, und schon wenig später tanzen einige Paare zu chinesischer Musik, aber auch zu Walzerklängen. Einige haben sich fein gemacht, andere tanzen in Flip-Flops. Jeder macht es, so gut er kann, und keiner wird ausgelacht. Fast ist es schöner hier als später am Abend in der Glitzerwelt Pudongs, wo reiche Chinesen in einer argentinischen Bar am Eton Place das Tangotanzen lernen - entspannter jedenfalls. (Tanja Paar/DER STANDARD/Printausgabe/19.11.2010)