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Als Erzähler gefeiert, als sozialethischer Autor fast vollkommen vergessen: Lew Nikolajewitsch Tolstoi (1828-1919)

Foto: Archiv

Mit Tamcke sprach Adelbert Reif.

Lew Tolstois Romane und Erzählungen gehören zum Kanon der Weltliteratur. Dass er ein ebenso umfangreiches religionsphilosophisches und sozialethisches Werk schuf, ist heute nahezu unbekannt. In seinem kürzlich erschienenen Buch "Tolstojs Religion. Eine spirituelle Biographie" (Insel-Verlag) widmet sich Martin Tamcke dieser fast völlig aus dem Blick geratenen Seite im Schaffen Tolstois, dessen Todestag sich am Samstag zum hundertsten Mal jährt.

Standard: Tolstois Romane "Krieg und Frieden" und "Anna Karenina" sind allgemein bekannt. Aber seine religionsphilosophischen und sozialethischen Schriften fielen der Vergessenheit anheim. Wie ist dies zu erklären?

Tamcke: Schon zu Lebzeiten Tolstois erreichten seine literarischen Werke eine weitaus breitere Wirkung. In ihnen nötigte er seine Leser nämlich nicht, ein bestimmtes Lebenskonzept zu realisieren. Dagegen verfolgte er in seinen religionsphilosophischen und ethischen Schriften immer den Zweck, auf ein konkretes Handeln der Menschen hinzuwirken. Dem widersetzten sich viele, zumal Tolstoi eine äußerst radikale Haltung einnahm und Strukturen infrage stellte, die das Leben in Staat und Kirche organisierten.

Standard: Wie sieht Tolstois religiöse Haltung aus?

Tamcke: Das Unbedingte bei Tolstoi war, eine Antwort zu haben, die dem eigenen Fragen und Sein standhält. Es war ihm wichtig, sich einen zu können mit dem, was für den Menschen das Erkennbare wird. Das geschah bei ihm durch das Gebet. Tolstoi hat immer gebetet. Beten war für ihn ein Vorgang der Selbstvergewisserung. Im Beten werde der Mensch sich gewiss, wer er sei und als wer er da sei. Für Tolstoi war das Gebet mehr Hinhören auf das, was vom Menschen gefordert wird, als ein Aussprechen von Bitten. Von dieser Rückkopplung an den göttlichen Willen werde alles getragen, was ein Suchen nach Gott, nach Wahrheit, nach dem ethischen Vollzug in der Gegenwart des Glaubens ausmache.

Standard: Tolstois Leben vermittelt den Eindruck einer geradezu verbissenen Gottsuche ...

Tamcke: Er suchte Gott mit ganzer Kraft. Und nur in diesem Suchen begegnete er ihm. Seine Suche wird also nicht etwa aufgelöst in einem Übersprung, dass er sich Gottes jemals vollkommen bewusst hätte sein können. Vielmehr erfährt er im Vollzug seines Lebensentwurfs immer wieder einmal Momente, in denen Gott für ihn greifbar wird. Und er betonte, dass dies Momente des Glücks in seinem Leben waren.

Standard: Laufen Tolstois religiöse und ethische Vorstellungen auf eine christliche Utopie hinaus?

Tamcke: Gewiss ist Tolstois Vorstellung, dass die Liebe das entscheidende Moment des menschlichen Miteinanders ist, eine Art Utopie. Aber gleichzeitig ist es das, was im täglichen Leben praktiziert werden soll. Und da kann Tolstoi plötzlich ganz kleinschrittig werden und auch angesichts großer Ideen statt großer Taten kleine Schritte fordern. Wichtig an großen Ideen sei, dass man selbst nach ihnen lebe.

Standard: Warum lehnte Tolstoi sozialistische Ideen dennoch ab?

Tamcke: Er scheute das diesen Ideen innewohnende Element der Gewalt. Kennzeichnend für die Auseinandersetzungen, die er mit jungen Sozialisten führte, war, dass er sich zwar im Anliegen mit ihnen gemein wusste, sich aber konsequent zur Gewaltlosigkeit bekannte. Darin mochten ihm gerade Angehörige der jüngeren Generation von Sozialisten, die ungeduldig waren, das herrschende zaristische System in Russland zu stürzen, nicht folgen.

Standard: In Ihrem Buch stellen Sie Tolstoi mit Albert Schweitzer, Gandhi und Martin Luther King in eine Überlieferungskette gemeinsamer sozialer und ethischer Anliegen. Inzwischen teilen alle vier das Schicksal, dass ihr geistiges Erbe vergessen worden zu sein scheint ...

Tamcke: Ich weiß nicht, wie wir angesichts der Entwicklungen, die wir gegenwärtig in unserem Gemeinwesen haben, in absehbarer Zukunft zu einer Gesellschaft kommen wollen, in der die Schwachen wirklich mitgetragen werden, ohne den Menschen Leitbilder anzubieten. Das geht nicht anders, als dass man eine Basis schafft von Menschen, die Ähnliches versucht haben und auf die man sich berufen kann. Damit zeigt sich, dass diese Gesellschaft, wie wir sie zukünftig brauchen, auch Wurzeln in der Geschichte hat. (DER STANDARD, Printausgabe, 19. 11. 2010)