Siegfried Ramler war Dolmetsch-Chef bei den Nürnberger Prozessen. Gerechtigkeit, so meint er heute, brachten sie nicht, denn: "Gerechtigkeit ist eine immerwährende Herausforderung."

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STANDARD: Vor 65 Jahren haben die Nürnberger Prozesse gegen die NS-Kriegsverbrecher begonnen. Sie haben dort von 1945 bis 1949 als Simultandolmetscher übersetzt. Mit 15 waren Sie mit einem Kindertransport von Wien nach London geflüchtet, Ihre Eltern entkamen nach Haifa, Ihr Großvater kam im KZ um. Sie leben seit den 50ern in Hawaii, mit welchen Gefühlen kommen Sie nach Wien?

Ramler: Es ist schwer zu verstehen, warum die Leute damals solche Sachen gemacht haben. Aber ich beschäftige mich nicht so viel mit der Vergangenheit, mich interessieren mehr Gegenwart und Zukunft. Das bedeutet aber nicht, dass die Vergangenheit nicht wichtig ist: Wer nicht aus der Vergangenheit lernt, ist gezwungen sie zu wiederholen. Meine persönliche Anklageschrift richtet sich nicht gegen Einzelne, sondern gegen die kriminelle Idee. Dagegen, dass Österreicher mit Nazideutschland arbeiteten, das so gefährlich wurde für die Welt und ihren ethischen Zusammenhalt.

STANDARD: Sie waren bis zum letzten Prozesstag in Nürnberg. Haben die Prozesse, die die internationale Gerichtsbarkeit bis heute prägen, Gerechtigkeit gebracht?

Ramler: Das kann man so nicht sagen. Gerechtigkeit kann man nicht herstellen, Gerechtigkeit ist ein Prozess, eine immerwährende Herausforderung. Aber natürlich war Nürnberg ein Baustein, der zu einem der wichtigsten Bestandteile des Völkerrechts wurde.

STANDARD: Sie haben die Verhöre Hermann Görings übersetzt, alle Angeklagten beobachtet. Der prägendste Eindruck für Sie?

Ramler: Nürnberg hat mich insgesamt sehr geprägt. Ich habe dort all diese großen Figuren gesehen: Reichsmarschall Göring, Außenminister Joachim von Ribbentrop, Militärs wie Wilhelm Keitel oder Alfred Jodl (alle zum Tod verurteilt und am 16. Oktober 1946 gehenkt; Anm). Ich habe diese Leute gesehen - und seither können mich weder Titel noch Positionen beeindrucken. Alle waren sie gewöhnliche Menschen, haben auf der Anklagebank ihre Schwächen enthüllt. Keitel (Chef des Oberkommandos der Wehrmacht; Anm.) habe ich als Dolmetscher oft gefragt: "Wie konnten Sie diese Strategie unterschreiben, etwa die, einen Zweifrontenkrieg zu führen?" Er antwortete immer: "Ich stand im Banne Hitlers. Wann immer ich mit ihm sprach, konnte ich keine Einwände, keine Kritik gegen ihn vorbringen."

STANDARD: Waren Sie von Angeklagten auch beeindruckt?

Ramler: Albert Speer hat mich beeindruckt. Der Rüstungsminister war der intelligenteste der Hauptangeklagten, hat 20 Jahre Gefängnis bekommen, obwohl die Sowjetunion für die Todesstrafe war. Aber er hat einen sympathischen Eindruck gemacht - und vor allem Verantwortung auf sich genommen. Die anderen schoben bei all den Gräueln, die thematisiert wurden, die Verantwortung so ab: "Ganz Deutschland hat sich schuldig gemacht, aber ich kann nichts dafür." Speer hingegen sagte: "Ich bin auch schuld daran." Er hat auch den Befehl Hitlers, die gesamte Infrastruktur Deutschlands zu zerstören, sabotiert - das trug zur Strafmilderung bei. Hätte er den Befehl befolgt, wäre der Wiederaufbau Deutschlands um Jahrzehnte verzögert worden.

STANDARD: An einem Prozesstag wurden stundenlang Filme gezeigt, von Paraden, Reichsparteitag, KZ, Gaskammern. Wie haben die Angeklagten reagiert?

Ramler: Das hat die Angeklagten sehr erschüttert; alle im Gerichtssaal. Danach hat der Generalgouverneur von Polen, Hans Frank, in dessen Verantwortungsbereich auch Auschwitz fiel, gemeint: "Wenn im Namen Deutschlands solche Verbrechen begangen wurden, dann sind wir alle schuld." Und Reichsbank-Präsident Hjalmar Schacht (wurde 1946 freigesprochen; Anm.) drehte sich demonstrativ mit dem Rücken zur Leinwand. Er signalisierte so: "Ich habe damit überhaupt nichts zu tun."

STANDARD: Das Tribunal gegen die Hauptkriegsverbrecher dauerte fast ein Jahr. In der Nacht zum 16. Oktober wurden zehn Todesurteile vollstreckt, Göring brachte sich um. Haben sich die Angeklagten in der Zeit verändert?

Ramler: Ich glaube nicht. Sie haben sich von Beginn an mit dem Führerprinzip verantwortet oder damit, dass das alles getan werden musste, um den Krieg zu gewinnen. Sie haben wohl ihrer eigenen Verteidigungslinie geglaubt.

STANDARD: Sie selbst waren Nazi-Opfer. Sie schreiben in Ihrem Buch "Die Nürnberger Prozesse" , Sie hätten sich so aufs Übersetzen konzentriert, dass Sie die Gräuel, die behandelt wurden, nicht so berührt haben. Waren Sie nie geschockt?

Ramler: Ich war damals sehr jung: 22 Jahre. Meine Herausforderung war das Sprachliche, es wurde erstmals simultan übersetzt, da war ich fast in Trance. Und all die Bilder, die man zeigte, kannte ich von den Vorbereitungen zum Prozess. Dabei war ich auch in KZs, bei Verhören etwa. Diese ersten Einvernahmen waren übrigens die eindrucksvollsten.

STANDARD: Weil die Angeklagten noch ohne Verteidigungsstrategie erzählten?

Ramler: Ja, wir bekamen spontan eine Reaktion der Führungselite zu hören, die noch nicht von einer Verteidigung filtriert war. Dabei war es quasi initim: ein kleines Verhörzimmer, der Zeuge oder Angeklagte, ein Jurist der Anklage, ein Stenograph, und ich. Im Gericht war es anders, formeller.

STANDARD: Zeigten die Angeklagten zunächst vielleicht noch Reue?

Ramler: Es ging nicht um Reue. Sie wollten nur erklären, was ihre Funktion nicht war. Es ging darum zu sagen: Ich hatte damit nichts zu tun, das war nicht meine Kompetenz, ich habe das nicht unterschrieben, und wenn ich es unterschrieben habe, dann habe ich das automatisch gemacht.

STANDARD: Die Stimmung unter den Angeklagten war angespannt ?

Ramler: Ja, das war interessant. Speer etwa hätte nie Konversation mit Julius Streicher (Eigentümer und Herausgeber von "Der Stürmer" ; Anm.) betrieben, die hatten nichts gemein. Streicher hat dieses Hetzblatt geschrieben, hatte aber keine Exekutivgewalt. Gehenkt wurde er trotzdem. Und Göring war vor allem stolz und eitel. Wirklich aufgeregt hat er sich, als man ihm sein Luxusleben vorwarf. Der Vorwurf des Angriffskriegs hat ihn nicht aufgeregt. Göring sah sich als der Führer der Anklagebank. Er schrieb Zettel an alle Verteidiger, mit Hinweisen, wen sie als Zeugen laden sollten. Das wurde ihm dann untersagt.

STANDARD: Hermann Göring brachte sich drei Stunden vor der Hinrichtung mit einer Zyankalikapsel um. Dachte man da, er habe sich seiner Strafe entzogen?

Ramler: Was können wir dagegen tun? Die wollten nicht aufgehängt werden, Hängen ist unehrenhaft. Wenn, dann wollten sie erschossen werden.

STANDARD: Sie erzählen, dass das Übersetzen auch deshalb so schwierig war, weil es für manches gar keine Worte gab.

Ramler: Ja. Und die Nazis liebten Umschreibungen. Sie sagten Endlösung und meinten Ermordung. Wir nannten das Nazideutsch.

STANDARD: Wurde der Prozess über die Jahre hinweg zu Routine?

Ramler: Das kann man nicht sagen, jeder Angeklagte war eine Einzelperson, da wurde nicht verallgemeinert. Besonders gut erinnere ich mich an einen Einsatzgruppenleiter, der persönlich für die Erschießung tausender Menschen verantwortlich war. Er hatte studiert und war Jurist. Dass ein Mensch mit solcher Bildung solche Taten begehen kann, diese Erkenntnis war damals ein großer Schock für mich, und sie ist es heute noch. Denn eigentlich glaube ich als Pädagoge, dass Bildung zu Erkenntnis der Welt führt, zu Toleranz und Zusammenarbeit.

STANDARD: Und wie erklären Sie sich, dass es nicht so war?

Ramler: Mit dem Antisemitismus: Der Täter ging davon aus, dass es sich bei den Opfern nicht um Menschen wie ihn handelte, sondern um Untermenschen. Das änderte die Perspektive. Untermenschen zu erschießen, das war etwas anderes.

STANDARD: Wurde in Nürnberg die NS-Zeit strafrechtlich beendet?

Ramler: Nichts ist zu Ende gekommen, es kann gar nichts zu Ende kommen. Im menschlichen Lebenslauf und im Lebenslauf eines Volkes, eines Staates wird nichts gelöst. Nürnberg hat uns die Auswirkung der menschlichen Unmenschlichkeit gegen Menschen gezeigt. Wie man dagegen strebt, erreicht, dass Menschen sich menschlich benehmen, das hat mit Erziehung zu tun.

STANDARD: Rechte Parteien gewinnen Wahlen in Europa, die Fremdenfeindlichkeit steigt. Wie sehen Sie das?

Ramler: Die heutigen Probleme haben viel mit Minoritäten zu tun, die Demografie der Welt hat sich sehr verändert. Besonders in Europa gibt es viele Minoritäten; die Reaktion der Politik darauf sehen wir in Frankreich, Deutschland, Österreich. Finden solche Veränderungen statt, muss man sie als Realität annehmen und sich damit beschäftigen. Wir müssen Leuten, die ins Land kommen, helfen, sie integrieren und menschliches Verständnis für sie herstellen. Auch das hat mit Bildung zu tun: Wir müssen unsere Kinder darauf vorbereiten. (DER STANDARD, Printausgabe, 19.11.2010)