"Meine sehr geehrten Damen und Herren,

wer einen solchen Preis bekommt, der hat zuerst zu danken.
Einmal der Jury, die ihn als Preisträger ausgewählt hat.
Dem Laudator, der den Begründungen der Jury noch zahlreiche ehrenvolle andere beigefügt hat.

Und allen, die ihm geholfen haben, jene Dinge zu tun, die mit diesem Preis dann ausgezeichnet werden.

Das sind zuerst die nächsten Menschen. Wer in einem schreibenden Beruf tätig ist, weiß, dass diese besondere Form des Autismus einer besonderen Form der Toleranz bedarf - Toleranz im ursprünglichen Wortsinn, nämlich als die Fähigkeit etwas zu ertragen, als Leidensfähigkeit. Meine Mutter ist hier, meine Frau Irena Rosc ist hier - gemeinsam haben wir gerade unser Kochbuch veröffentlicht -, beide wissen, wovon ich rede, und beiden möchte ich dafür danken, dass sie mich ertragen haben und ertragen.

Danken möchte ich auch allen jenen, die dazu beitragen, dass der Schreibende erscheinen kann und endlich auch zu einem Preisträger wird. Das sind die Partner, Kollaborateure, Kollegen und Mitarbeiter aller Arten, die sich mit mir auf Gemeinsames eingelassen haben und deren Arbeit diesen Preis mit ermöglicht hat: die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Falter Verlags, der ja doch in erster Linie als mein Lebenswerk zu betrachten ist und den ich in keiner Weise allein gemacht habe. Ich danke vor allem meinem Partner Siegmar Schlager, der heute leider aus privaten Gründen nicht hier sein kann. Ich danke ausdrücklich auch allen, die es mit ermöglicht haben, dass der Falter, dieses doch für österreichische Verhältnisse merkwürdige, ja fast bizarr anmutende Unternehmen - eine unabhängige Qualitätszeitung, klein, aber mit europäischen Ambitionen -, nunmehr bereits im 34. Jahrgang erscheint.


Ich danke auch den Mitarbeiterinnen des Zsolnay-Verlags, dessen Verleger Michael Krüger und Herbert Ohrlinger mich nicht nur als Sachbuchautor publiziert, sondern mich auch zum Schreiben von Literatur angestiftet haben und anstiften. Das Publikum macht sich wenig Vorstellung von der Rolle der Verlage, und diese haben wenig Interesse, ihre Rolle aufzuklären. Ein großer Teil unserer Literatur erscheint aber nicht oder nicht nur, weil Autorinnen und Autoren ihren Drang sich zu äußern nicht unterdrücken können, sondern weil Verleger Autoren anregen und auswählen, ordnen und drängen.

Die Prinzipien dieser Ordnung in der Welt der Bücher und die nicht unähnlichen Prinzipien dessen, was man Qualitätszeitung nennt, sind gleichermaßen in Gefahr. Wer heute einen Preis für sein Lebenswerk für Publikationen in Büchern und Zeitschriften entgegennimmt, der kann sich eines gewissen Silberrücken-Gefühls nicht erwehren: Es ist zwar schön, in einer Herde angesehen zu sein. Man fühlt die Herzen mancher Menschen für sich schlagen, man meint, Teile der Wissenschaft an seiner Seite zu haben, man darf sich sogar durch Wildhüter bewacht fühlen. Aber man weiß, draußen in der Welt, da regieren die Wilderer. Draußen regiert das universale, fieberhafte Wetten auf den Wert von Land, draußen herrscht die Gier nach Beute, die Jagd nach exotischem Fleisch und verbotenen Trophäen, draußen herrscht das Gegenteil von Toleranz, draußen herrscht das Faustrecht.

Auch abgesehen von Silberrücken-Konnotationen klingt der Begriff des Lebenswerks nicht in allem erfreulich. Bei Schauspielern oder Regisseuren, an denen man nichts Konkretes zu loben findet, lobt man das Lebenswerk. Der österreichische Fiskus hat sich dieser Sicht angeschlossen und Preise für das Lebenswerk aus Mitgefühl mit den Ausgezeichneten steuerfrei gestellt, während er Auszeichnungen für konkrete Werke mitleidlos besteuert.

Die pauschale Idee des Lebenswerks erfordert offenbar eine Art Pauschalbeschwichtigung: Über ein Lebenswerk und am offenen Grab sage man nur Gutes. Wie alle Lebenswerkgepreisten beruhige ich mich damit, dass ich mein Werk noch nicht abgeschlossen habe.

Mein Lebenswerk sollte einen Beitrag zur Rekonstruktion der österreichischen Öffentlichkeit darstellen. Die Bilanz fällt entmutigend aus: Allen mediengeschichtlichen Tröstungen zum Trotz, dass neue Medien alte niemals ersetzen, sondern neben sie treten, findet vor unseren Augen rapide ein Funktionswandel der Öffentlichkeit statt. Während die Zahl der Medien ständig zuzunehmen scheint, verschwindet die Öffentlichkeit selbst. Mitten im Überfluss an Scheinöffentlichkeit wird Öffentlichkeit zur bedrohten Art.

Als der Falter vor nunmehr 33 Jahren zum ersten Mal erschien, schrieb ich in der ersten Ausgabe, egal wie unbedeutend und unwichtig dieses Produkt nun sei, es liege immerhin auf der anderen Waagschale. Darauf komme es an. Die Waagschalen des Journalismus, sind Geschäft und Öffentlichkeit.

Der kommerzielle Teil kann als Grundlage des Geschäfts aufgefasst werden. Das erfordert, dass sich die kommerzielle zugunsten der öffentlichen Rolle eines Mediums selbst beschränkt. Auch ein Qualitätsmedium tut es für Geld. Aber es tut eben nicht alles für Geld. Diese Auffassung von Medien ist im Verschwinden begriffen.

Die Krise des Qualitätsjournalismus ist jedoch kein Naturgesetz. Sie hat auch weniger mit der Digitalisierung zu tun als mit der Marktliberalisierung unter den Regierungen Reagan und Clinton. Wie die meisten Liberalisierungen führte diese zu weniger Markt, nämlich zu einer massiven Konzentration von Medienkapital, zuerst in den USA. Und sie führte dazu, dass die alten Verlegerfamilien ihr Prinzip aufgaben, sich mit Renditen von 8 oder 10 Prozent zufriedenzugeben.

Börsengetriebene Finanzinvestoren, die an ihre Stelle traten, wollten mehr. Also mussten die Kosten runter, teures Personal musste raus, Redaktionen wurden zerstört, das bedeutete Ersparnis, aber auch schlechtere Qualität. Bald schon erschienen Lügengeschichten in den besten Zeitungen der Welt. Wenn die Selbstbeschränkung der Medien fällt - und sie fällt, wenn bei ihnen nur noch der Kommerz regiert - dann werden sie korrupt.

Im Fall der Qualitätszeitung erscheint die Lügengeschichte als Betriebsunfall. Im kommerzialisierten Medium ist sie die Regel.

Neben der kommerziellen bedürfen Medien auch der publizistischen Selbstbeschränkung. Guter Journalismus schränkt sich ein, wo er die Würde des anderen bedroht sieht. Er reflektiert seine Mittel und nimmt sich zurück, statt die Fairness der Quote und die Rücksichtnahme der Reichweite zu opfern. Quote muss Qualität nicht ausschließen, aber sie ist nicht ihr Kriterium.

Wo seine Selbstbeschränkung nicht funktioniert, verliert Journalismus seine Distanz zur Macht, im Extremfall wird er zu ihrem Handlanger. Er verkommt zum Mittel des Verlegers, selbst an die Macht zu kommen, an der Macht zu bleiben oder anderen Leuten zur Macht zu verhelfen. Wobei die Macht stets nur ein Mittel ist, möglichst profitable Mediengeschäfte zu machen. Berlusconis Medienfaschismus, die Propandalügen von Murdochs TV-Sender Fox-TV sind die bekanntesten Beispiele dafür.

Der australisch-amerikanische Tycoon Rupert Murdoch ist der Feind der Pressefreiheit in Form der Presse, er ist der Feind des klassischen Verlegers in der Form des Verlegers, der Zeitungstod in Form des Zeitungsmachers. Er lässt nur zu, dass publiziert wird, was in seinem Interesse liegt. Als Murdoch daranging, das Wall Street Journal zu übernehmen, berichtete diese Qualitätszeitung selbst darüber noch neutral. Damit schadete sie ihren eigenen Eigentümern und nützte dem übernahmebegierigen Konkurrenten. Murdoch lachte sie aus. So etwas wäre ihm nie passiert!

Um es in den Worten von Murdochs Biografen Michael Wolff zu sagen: „Darin liegt für (...) Murdoch die fatale Schwäche von Zeitungen wie dem Journal und der New York Times begründet - dass es den dort arbeitenden Leuten vor allem darum geht, selbst geachtet zu werden, anstatt in erster Linie den Bedürfnissen der Leser und Besitzer ihrer Zeitung Beachtung zu schenken."

Publizistische Selbstachtung ist sozusagen ein Geschäftshindernis für den Brachialjournalismus Murdoch-Style. Um mit der chinesischen Regierung ins Geschäft zu kommen, unterdrückte Murdoch das Buch des letzten Gouverneurs von Hongkong, das in dem zu seiner News Corp Gruppe gehörenden Verlag Harper&Collins hätte erscheinen sollen, mit den Worten: „Kill the fucking Book!" Ich dachte, in der Woche des Buches sollte man sich dieser Anekdote erinnern.

Was Murdoch von publizistischer Seriosität hält, hat er auch zu erkennen gegeben, als es um die Veröffentlichung der Hitlertagebücher ging. Trotz eines vorliegenden Gutachtens des Publizisten Hugh Trevor Roper, genannt Lord Dacre, dass es sich um eine Fälschung handelte, trieb Murdoch seine Sunday Times zur Veröffentlichung der „Hitler-Tagebücher" mit dem legendären Ruf an: „Fuck Dacre, publish!"

Wozu in die Ferne schweifen? Wir in Österreich haben historische Beispiele für Vergleichbares, etwa den erpresserischen Verleger Emmerich Békessy, den Karl Kraus in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts mit dem Ruf „Hinaus aus Wien mit dem Schuft!" aus der Stadt vertrieb.

Doch wozu in die Vergangenheit blicken? Die publizistische Gegenwart in Österreich ist verkommen genug. Man kann in gewissen Medien gute Plätze in Rankings kaufen. Manche Firmen bezahlen positive Berichterstattung über sich, ohne dass diese Berichte gekennzeichnet würden. Wer im Anzeigenverkauf heute keine solchen redaktionellen Leistungen anbieten will, hat es schwer. Das unter Békessy erprobte Muster der Erpressung funktioniert nach wie vor: „Sie zahlen, wir schreiben". Noch besser klappt: „Sie zahlen, oder wir schreiben". Da solche Berichte in der Regel nicht erscheinen, ist diese Art des journalistischen Inkassos nicht leicht nachzuweisen.

Manches freundliche Gesicht eines Politikers lacht aus Publikationen nicht deswegen heraus, weil dessen tüchtige Werbemanager gerade dieses Medium als idealen Werbeträger identifiziert haben.
Meist geht es um Beziehungspflege auf einer direkten, monetären, in Anzeigenaufträgen zu quantifizierenden Ebene. Umgekehrt habe ich schon politische Berater und Mitarbeiter von Spitzenpolitikern unter Drohungen stöhnen hören, der jeweilige Mann oder die jeweilige Frau würde angegriffen, falls er (das heißt sein Amt) nicht bezahlen würde.

Die solches praktizieren, sind in der Branche bekannt und durchaus angesehen, teilweise wegen ihres ökonomischen Erfolgs bewundert. Die Regierung und mächtige Gemeinden füttern sie mit Inseraten und benützen sie als ihre offiziösen Organe.

Verbunden sind Politiker und Medien nicht durch Respekt, sondern durch Angst und Gier. Medien fürchten, dass die Politiker nicht zahlen, Politiker fürchten, dass die Medien nicht still halten. Oder womöglich ihre Unabhängigkeit dadurch beweisen, dass sie sich wie Terrier in einem festbeißen und einem das Wort im Mund umdrehen. Oder dass doch einmal irgendwo ein unkontrollierbarer Journalist die Medialpartnerschaft zugunsten seiner Selbstachtung hintanstellt.

Meine sehr geehrte Damen und Herren, das alles ist beruhigenderweise nicht neu. Wo es Demokratie und Öffentlichkeit gibt, taucht die Fratze des Missbrauchs von Publizität auf. Kaum hatte in der griechischen Polis die Agora ihre öffentliche Funktion entfaltet, erschienen auch schon die Sykophanten, bezahlte Verleumder. Und der Durchschnittsbürger bedurfte der Sophisten, bezahlter Schönredner, die seine Interessen wahrten und andere für ihn überredeten.

Insgesamt aber ist die Lage der Presse- und Meinungsfreiheit beunruhigend unerfreulich. Autoritäre Regimes treten sie sowieso mit Füßen, dazu zählen leider bevölkerungsstarke und zukunftsreiche Länder wie Russland und China. In entwickelten Ländern wie Italien herrscht Medienfaschismus, in anderen staatlicher Autoritarismus oder Brachialkapitalismus. In der Europäischen Union ist man nicht an Marktordung interessiert, sondern an Deregulierung.

Bei uns in Tripstrill regiert die Gleichgültigkeit der Eliten, nicht nur der politischen. Längst gibt es wieder eine finanzstarke Klasse; warum benimmt sie sich nicht wie einst das Bürgertum und gibt sich zufrieden mit einer strukturell korrupten Medienlandschaft? Warum nimmt sie, warum nehmen wir die skandalös korrupten medialen Zustände im Land gleichgültig hin?

Korruption bedeutet ja soviel wie Missbrauch seiner Machtstellung zum eigenen Vorteil. Damit meine ich nicht nur die mehr oder weniger offen gestalteten korrupten Verhältnisse von Politik und Medien zueinander. Nicht nur den Gusenbauer-Faymann-Brief an die Krone. Nicht nur die Tatsache, dass ein Krone-Journalist im Küchenkabinett des Bundeskanzlers sitzt. Nicht nur, dass ein Löwenanteil quasi-offzieller Presseförderung in Form von Inseraten fast ausschließlich an die drei österreichischen Boulevardmedien Krone, Heute und Österreich fließt. Nicht nur, dass diese Inseratenflüsse in der Regel durch unsanften Druck von Seiten der Medien am Fließen gehalten werden.

Ich meine die gesamte skandalöse Medienunordnung des österreichischen Medienmarkts, der von Oligopolen beherrscht wird, die jedem unabhängigen Publizisten die Existenz schwer machen. Man kann sagen, diese Marktunordung ist selbst ein struktureller Fall von Korruption, von der Entstehung des Eigentums an der Kronen Zeitung über die Entstehung der Mediaprint bis zur Genehmigung des Zusammenschusses der Newsgruppe mit dem Trend-Profil-Verlag.

Die Politik hat in der Ordnung des Medienmarkts komplett versagt. Sie versucht sich damit zu exkulpieren, dass es ohnehin den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gebe. Und sie rächt sich am ORF für das, was sie von und mit den Printmedien erduldet.

Ich muss also - Sie haben es erwartet oder befürchtet - über den ORF reden. Seit Jahrzehnten erleben wir das Drama, wie ein im öffentlichen Eigentum stehendes Unternehmen von der Politik und von sich selbst ruiniert wird.

Den öffentlich-rechtlichen Hörfunk nehme ich übrigens ausdrücklich von diesem Urteil aus, zumindest die Sender Ö 1 und auch FM 4 - sie entsprechen noch dem, was man unter öffentlich-rechtlich versteht, weil sie der Politik aufgrund mangelnder Massenwirksamkeit nicht wichtig genug erscheinen.

Die Unverschämtheit der Regierungsparteien verblüfft einen immer wieder. Etwa, wenn die Volkspartei einen smarten, willfährigen, aber nicht weiter qualifizierten Provinzredakteur aus Niederösterreich zum Finanzchef des größten österreichischen Mediums macht. Oder wenn die Sozialdemokratie die Exekution der Medienmacht den Roten Falken überträgt. In Anbetracht der Taube in der Generaldirektion eine möglicherweise naheliegende Maßnahme, aber dennoch eine Beleidigung des Publikumsgeschmacks.

Oder wenn Landesfürsten Landesstudios als ihr Privateigentum betrachten. Tiere würden Faymann wählen, titelte die Krone. Nur niederösterreichische Tiere nicht. Die wählen Pröll. Tiere, wie lange wollt ihr euch das noch bieten lassen?

Die rechte Opposition ist kein Haar besser. Sie hat schon gezeigt, was sie kann, als sie an der Regierung war: Sie interveniert noch plumper, unverschämter und ungeschickter als Rot-Schwarz. Ihre Drohung, sie werde in den Redaktionsstuben Ordnung schaffen, steht nach wie vor auf der Agenda ihrer kleinen Führer. Und die Grünen scheinen neuerdings im Stiftungsrat so abzustimmen, wie es der Rot-Grüne Proporz verlangt.

Politik in Österreich kümmert sich traditionellerweise nicht um Öffentlichkeit. Sie verlässt sich auf das Fernsehen. Was an zwei Dingen scheitert: Erstens ist Fernsehen tendenziell ein Unterhaltung- und kein Argumentationsmedium. Und zweitens denken die politischen Parteien nicht daran, sich im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu legitimieren.

Sie wollen nur die Massen lenken, und dazu brauchen sie nicht Politik durch das Medium, sondern politischen Einfluss auf das Medium.

Damit begünstigt Politik die Fragmentarisierung der öffentlichen Medien. Weil das parallel zur Fragmentarisierung aller Arten von Öffentlichkeit geschieht - ironischerweise bei gleichzeitiger Konzentration und Anonymisierung des Eigentums - hat es dramatische Konsequenzen für die Demokratie. Öffentlich-rechtliche Medien haben die Aufgabe, der Fragmentierung entgegenzuwirken, sie sollten den Markt zu korrigieren, statt hilflos an ihm teilzunehmen.

Öffentlichkeit, das sind die zum Publikum versammelten Privatleute, die voreinander Argumente ausbreiten und vernünftig abwägen. Zumindest als Fiktion ist diese Annahme die Grundlage der Demokratie. Wenn Politik daran nicht mehr teilnimmt, weil sie vor Publikum nicht mehr argumentiert, sondern nur noch versucht, die Stimmung dieses Publikums zu steuern, gibt sie sich selber auf, zumindest in demokratischer Form. Wundert sie sich, dass die Stimmung gegen sie umschlägt?

Dass sie den ORF in die Selbstkommerzialisierung geradezu treibt, ist die eine Seite seiner Katastrophe. Sie lässt das Unternehmen nicht von der politischen Leine - was nicht hieße, ihn der politischen Kontrolle zu entziehen - und wundert sich, dass es nicht vorankommt.

Dass die Führung des ORF nicht imstande ist, zu argumentieren, wozu die Gesellschaft ihn braucht, ist die andere Seite der Katastrophe. Das mächtigste Medium des Landes verzichtet darauf, in eigener Sache medial und argumentativ im eigenen Medium tätig zu werden und versucht, wie die Politik, den korrupten Weg einer Allianz mit Boulevardmedien zu gehen. Alles, nur keine schlechte Presse in Heute, Österreich oder Krone! Das bedeutende Intelligenzblatt TV-Media nicht zu vergessen!

So lautet das oberste politische Dogma in der Anstalt. Das Gegenteil ist wahr: Der ORF macht etwas falsch, wenn er in diesen Medien eine gute Presse hat.

Nachdem ich vor kurzem an dem Versuch einer ORF-Rettung teilgenommen habe, die wenig bewirkte, außer dem jetzigen Direktor den Kopf zu retten, den er wohl auch ohne uns Retter aus der Schlinge gezogen hätte, darf ich heute sagen: Der ORF ist nicht zu retten.

Außer vielleicht durch sich selbst. Ich kann deshalb nur den Widerstand seiner Redakteure unterstützten, die sich gegen die Parteipolitisierung des Stiftungsrats und der Personalpolitik im ORF wehren. Sie liegen auf der anderen Waagschale, sie kämpfen für ein öffentlich-rechtliches Unternehmen.

Das geistige Vakuum an der Spitze des Unternehmens können allein sie füllen; das Kerngeschäft des ORF wäre es nämlich, kein Geschäft zu sein. Das ist die Idee dieser Anstalt. Das intellektuelle Potential hätte sie, aber ihre Führung wie die zuständige Politik ziehen es vor, dieses Potential mit Füßen zutreten.

Redaktionen sind der Kern journalistischer Qualität und Selbstachtung; sie werden gerade weltweit zerschlagen, ruiniert, entmachtet. Ihr kollektiver Prozess der Urteilsbildung und Ideenfindung ist weder durch Stiftungen zu ersetzen noch durch Digitalisierung zu simulieren. Der ORF kann - wie alle Qualitätsmedien - nur durch Stärkung seiner Redaktionen überleben.

Im Übrigen dürfte der ORF nicht mit einer Neubegründung, sondern nur mit einer Neugründung zu retten sein. So etwas gerät - wie Figura zeigt - leicht zur Phrase, wenn man keine Ideen dazu hat.

Von der Politik ist zu fordern, dass sie endlich den ORF seinen gesetzlichen Auftrag erfüllen lässt. Dass sie endlich ihre Medienpolitik auf eine neue und gerechte Basis stellt und nur mehr jene Medien fördert, die tatsächlich im Sinn einer demokratischen Öffentlichkeit agieren. Und dass sie nicht Geld in Geldmaschinen stopft, die zufällig aussehen wie Medien.


Das zu tun, würde Weitsicht, eine gewisse Urteilsfähigkeit und den Mut erfordern, öffentlich zu seinen Entscheidungen zu stehen. Alles Dinge, die man von einer Politik nicht mehr erwartet, die sich damit begnügt, Pakete zu packen und zu schnüren, aber nicht in Stein zu meißeln, jedoch auf den Weg zu bringen, um sie dann abzufedern, aber keinesfalls mehr aufzuschnüren. Geschnürt und gefedert - so darf sich der österreichische Staatsbürger metaphorisch fühlen.
Von der Halsabschnürung der außeruniversitären Forschung bis zu Kindern, die man zügig auf den Weg der Abschiebung bringt - kann man von Leuten mit dem Horizont von Paketboten verlangen, für den politischen Inhalt ihrer Pakete verantwortlich zu sein? Sie verstehen ja offenbar auch nicht, dass sie mit ihrer Medienpolitik ihre natürlichen Gegner stark machen.

In einer Gesellschaft, die tendenziell nur mehr aus fragmentarisierten Öffentlichkeiten besteht, regiert nämlich nicht mehr demokratische Politik, sondern populistisches Ressentiment. Dessen Emblem ist der emporgereckte und bei Bedarf gesenkte Daumen, den wir aus der Geschichte des Affekttheaters kennen - vom römischen Kolosseum bis zu Facebook. Das Regime der Affekte, die Politik der Gefühle, die Deregulierung, Kommerzialisierung, Konzentration und das Ansteigen von Korruption auf jeder Ebene hängen zusammen; jedenfalls treten sie gleichzeitig auf.

*

Mein sehr geehrten Damen und Herren, Sie fragen sich, was das alles mit Toleranz zu tun hat? Einer der mächtigsten Männer des Landes schrieb mir: „Aus meiner Sicht ist die Verleihung an Sie für Toleranz im Denken und Handeln insofern bemerkenswert, als Sie seit über zwanzig Jahren Ihr ceterum censeo laut vertreten; also festgefahren und unnachgiebig - zumindest im Denken." Und er gratulierte mir zu diesem Preis. Also gut: Erstens sind es erst 16 Jahre. Zweitens fand ich den Brief ehrlich, Widerspruch nehme ich als Kompliment.


Drittens aber kann Toleranz nicht bedeuten, einen fortdauernden Missstand gutmütig zu erdulden. Fortgesetztes Unrecht verlangt fortgesetzten Protest. Es ist mit der Toleranz wie mit der Demokratie: Alles kann man zur Abstimmung stellen, nur nicht ihre Abschaffung. Alles kann man tolerieren, außer Intoleranz. Und Toleranz ist nur ein Übergangszustand von ungerechten zu gerechteren Verhältnissen. Wenigstens einmal in dieser Rede möchte ich Goethe zitieren: „Toleranz", sagt er, „sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein. Sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen."

Die neuzeitliche Idee der Meinungsfreiheit stammt aus dem Kampf der Reformation um religiöse Toleranz. Die Aufklärer - zum Beispiel Leibniz - haben sich dann nicht nur mit der Idee der Gedankenfreiheit beschäftigt, sondern auch damit, wie diese Freiheit davor zu schützen wäre, von den Verlegern nicht missbraucht zu werden. Ein Thema, das heute wieder bestürzend aktuell erscheint.

„Der Kampf für die Pressefreiheit ähnelte in den Jahrzehnten bis 1848 immer mehr dem früheren Kampf um Glaubensfreiheit", schreibt der Pressehistoriker Kurt Koszyk. Und er fügt hinzu, die heutige Diskussion um die innere Pressefreiheit gleiche frappierend dem alten Kampf zwischen Herrschaft und Öffentlichkeit um die Religionsfreiheit. Wobei an die Stelle des absoluten Herrschers der Verleger getreten ist, oder der anonyme Gesamtverleger, der Anleger, der Spekulant. Und im Fall des ORF die Politik. Die Refeudalisierung ist mit Händen zu greifen.

Ihr wird man mit der Forderung nach Toleranz allein nicht beikommen. Die Regierung wird fortfahren, die Meinungsfreiheit zu dulden, also zu beleidigen. In dieser Überlebensfrage der Demokratie ist zivile Dissidenz notwendig, und ich gestatte mir, die Zuerkennung dieses Preises als Ermutigung aufzufassen, damit fortzufahren.

Ich danke Ihnen für die Ausdauer, mit der sie meine Ausführungen ertragen haben."