Mein Medientag beginnt mit dem Morgenjournal auf Ö1. Da bekomme ich eine Nachrichtenqualität, die dem entspricht, was auch von Qualitätszeitungen zu verlangen ist. Wenn also von der ORF-Krise die Rede ist, muss man den Hörfunk ausnehmen. Seine Kanäle entsprechen seit Jahrzehnten den Bedürfnissen des Publikums.

Warum gilt das für das Fernsehen nicht? Warum muss ich am Abend (so ich überhaupt Zeit dafür habe) auf Arte schalten, auf ZDF neo oder auf BR alpha, wenn ich beim deutschsprachigen Fernsehen bleibe? Weil den österreichischen Regierungen der Hörfunk egal ist. Sichtbar sind die Mächtigen im Fernsehen. Dort, glauben sie, die Messe lesen zu können.

Und sie werden darin ja europaweit bestätigt. Nicht nur durch die Machtpraktiken Silvio Berlusconis. Selbst Angela Merkel & Co steigen in die Niederungen des Ränkeschmiedens herab, wenn es um die Neubesetzung von Fernsehintendanzen geht.

Die Medienwelt freilich ist längst an ihnen vorbeigezogen. Sie werden selbst zu Getriebenen. Beim Medienkongress, der am Wochenende - veranstaltet vom Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Kooperation mit dem Standard - stattfand, hätten Werner Faymann, Josef Pröll & Co sich bei einigen Spitzenfiguren des Kommunikationswesens informieren können. Allein, sie glänzten wie schon anlässlich des IPI-Kongresses in Wien und in Bratislava im September durch Abwesenheit. So etwas interessiert sie nicht.

Für sie stellt der ORF (wie gesagt: vor allem dessen Fernsehen) die verlängerten Arme ihrer Presse- und Propaganda-Abteilungen dar. Wenn sie könnten, würden sie sich auch die Zeitungen einverleiben. Aber die drehen - wenn sie wie die Krone über Massenauflagen verfügen - den Spieß um und diktieren den beiden Regierungsparteien, wie viel sie für die Publikation von Inseraten oder nichtgekennzeichneten werblichen Textstrecken zahlen müssen. Diesem Diktat unterwerfen sich leider auch Banken und Industriekonzerne.

Für eine funktionierende Demokratie ist all das langsam, aber sicher tödliches Gift. Die Ausfälle an der ORF-Spitze sind daher nicht nur auf persönliches Versagen zurückzuführen, sondern auf fortschreitende Deformationen des politischen Systems in Österreich.

Mittlerweile ist ja angesichts der zunehmenden Lebendigkeit der Privatsender (siehe die Wahl-Shows auf ATV) auch für den Programmbereich das Schlimmste zu befürchten. Außer es gelingt ein kleiner Felgaufschwung mit TW1.

Gibt es eine Therapie oder gar eine Lösung? Die Antwort ist eine Utopie: weg mit der jetzigen Führung, weg mit dem Stiftungsrat. Neukonstruktion des Medientheaters ORF nach Art von Burg und Oper, aber unter Ausschluss der Politik.

Die hätte nur eine einzige Aufgabe: die Ernennung eines Weisenrates aus ehemaligen Kultur- und Mediengrößen (z. B. Gerd Bacher, Ioan Holender, Emmy Werner, Helmut Thoma), der alle fünf Jahre die Aufgabe hätte, für eine Periode den Generaldirektor des ORF zu bestimmen. Nur eine Periode deshalb, weil er (oder sie) keine Gedanken an eine Wiederwahl verschwenden müsste. (Gerfried Sperl/DER STANDARD; Printausgabe, 22.11.2010)