Ein breiter Dünengürtel trennt das Ferienhausgebiet von Hvide Sand von Strand und Nordsee.

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Foto: Mikkel Grabowski/visitdenmark

Er hat aufgehört zu singen. Ganz plötzlich. Irgendwann mitten in der Nacht. Auf einen Schlag ist es still geworden. Niemand drückt mehr gegen die großen Fensterscheiben des Wohnzimmers, rüttelt an den Türen, kriecht um die Ecken des Holzhauses, pustet von oben in den Schornstein des gusseisernen Ofens. Der Sturm hat sich gelegt - so plötzlich, wie er begonnen hatte. Dabei war es gerade so gemütlich geworden, so spaßig sogar, in das Fauchen da draußen erst eine Melodie, dann Worte hineinzuhören. Manchmal schien es, als wollte der Wind das Ferienhaus hinter den breiten Dünen bei Hvide Sande einfach mitnehmen und irgendwo wieder absetzen. Er hat es nicht getan.

Es wäre auch schade gewesen, dann da, wo es steht, passt es perfekt hin: drum herum diese sandigen Hügel, an die sich Grasbüschel klammern, dazwischen ein paar Fahrwege, gesäumt von gelben, roten und dunkelblauen Ferienhäusern, in hundertfünfzig Meter Entfernung wie ein langgezogener Riegel die vorderste Dünenreihe, davor breiter Strand, auf dem die wintergrauen Wogen der Nordsee ausrollen.

Die Hafenstadt Esbjerg ist gut sechzig Kilometer Richtung Süden entfernt und bis hinauf nach Skagen im äußersten Norden wären es von hier aus noch gut zwei, zweieinhalb Fahrtstunden. Ein achthundert Meter breites Band aus Erde und Sand, aus Dünen und Wiesen trennt den Ringkøbing-Fjord von der Nordsee und macht ihn fast zu so etwas wie einem großen See unmittelbar hinter der Küstenlinie. Gut 35 Kilometer lang ist dieser Streifen Land, der dem Meer trotzt: windumtost, wasserumspült, von Stürmen geformt. Die Wurzeln der Gräser und der Kiefern, die sich hier in den Sand krallen, helfen die Dünen an Ort und Stelle festzuhalten. Seit Jahrhunderten. Und hoffentlich noch für lange Zeit.

Gespickt ist dieser schmale Streifen aus grünen Hügelchen mit Ferienhäusern. Sie kauern sich in die Mulden, die Dünentäler, hinter die Kiefernschonungen. Und jedes davon ist nur einen kurzen Spaziergang von der Nordsee entfernt. Still ist es hier um diese Jahreszeit - außer es schaut gerade mal wieder ein Sturm vorbei. Kaum eines der Häuser ist bewohnt, kaum ein Mensch beim Spaziergang durch die Dünenlandschaft anzutreffen. Keine Spur vom Sommerrummel, von Strandbetrieb und Ferienprogramm.

Beim Fischmann in Hvide Sande ist Zeit für einen radebrechenden Plausch, im Räucherfischladen am Hafen kein Schlangestehen angesagt. Die Krabbenfrikadelle gibt es gleich auf die Faust, das Stück Lachs wird abends mit Honigmarinade in der Ferienhauspfanne brutzeln. Ein paar gute Worte gibt es mit auf den Weg - und ein Stück Räuchermakrele gratis dazu, weil gerade so viel davon da sind.

Erst zu Ostern wird es hier wieder voller werden. Erst dann muss der Krämer an der Landstraße beim Bäcker aus der nächsten größeren Ortschaft, Nørre Nebel, mehr als die drei Dutzend Brötchen ordern, die jetzt jeden Tag ausreichen, um alle Kundenwünsche zu bedienen. Verloren liegen sie in den viel zu großen Flechtkörben hinter seinem Tresen.

Die Ferienhäuser kosten jetzt einen Bruchteil der Sommerpreise, schicke Quartiere mit Whirlpool und Sauna zum Beispiel oft nur noch 350 Euro pro Woche - statt 1200 im Hochsommer. "Besser als Leerstand", sagen sich die Vermieter und nehmen so wenigstens ein bisschen was ein. Bis in den April hinein gelten diese Winterpreise vielfach.

Renner beim Købmand, dem Kaufmann um die Ecke, sind derweil fertiggeschnürte Kaminholzgebinde, die sich draußen an seiner Fassade hoch stapeln - sechs Euro für einen Arm voller Scheite. Damit macht er in dieser Jahreszeit sein Geschäft, nicht mit den Brötchen. Und mit Kerzen, Teelichtern, Duftlampen. Bausteinweise verkauft er so die Gemütlichkeit, genau das, was die Winterurlauber suchen.

Der Sturm hat da gar nicht gestört, im Gegenteil. Er kam wie bestellt, um die Ferienhausromantik zu unterstreichen. Ganze Arbeit hat er diese Nacht geleistet, den Himmel aufgeschoben, den Vorhang aus tiefhängenden Wolken wie mit einem Ruck beiseite bewegt. Weil das so ist, können sie jetzt plötzlich alle durch die Glasfront des Wohnzimmers ins Haus hineinschauen: Abermilliarden Sterne, lauter winzige Lichtpunkte am Firmament. (Helge Sobik/DER STANDARD/Printausgabe/20.11.2010)