"Um die Struktur eines Moleküls zu sehen, braucht man Techniken, die eine Auflösung von einem Ångström bzw. 0,1 Nanometer haben", sagt Kristina Djinovic Carugo. Als Leiterin eines Laura-Bassi-Zentrums forscht sie an Herstellungsverfahren für Proteine.

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Standard: Wie lange beschäftigen Sie sich schon mit der Strukturaufklärung von Biomolekülen?
Djinovic Carugo: Seit meiner Diplomarbeit. Damals arbeitete ich mit einer Säure, einem relativ kleinen Molekül, und diese Arbeit führte zu einem Schlüsselerlebnis. Ich dachte mir: Ich sehe etwas, das niemand vor mir gesehen hat! Diese Momente erlebe ich auch heute noch. Wenn man das erste Bild eines Moleküls in Händen hält, ist das sehr befriedigend.

Standard: Später wechselten Sie zu größeren Molekülen.
Djinovic Carugo: Genau, vor allem Proteine. Die Untersuchungsprinzipien sind die gleichen, aber sie sind viel schwieriger in Reinform herzustellen. Zudem müssen wir die Moleküle kristallisieren, auch das ist bei Proteinen schwieriger.

Standard: Wenn Sie ein Protein untersuchen, beschießen Sie die Proteine mit Röntgenstrahlen. Wie läuft das ab?
Djinovic Carugo: Um die Struktur eines Moleküls zu sehen, braucht man Techniken, die eine Auflösung von einem Ångström bzw. 0,1 Nanometer haben. Das Licht optischer Mikroskope reicht nur bis in den Bereich von ein paar hundert Nanometern. Also benötigt man elektromagnetische Wellen, die kürzer sind, Röntgenstrahlen etwa. Das Problem ist: Bei diesen Wellenlängen kann man keine Linsen verwenden. Daher stellt man zunächst Kristalle von diesen Proteinen her und analysiert dann die Beugungsmuster der Röntgenstrahlen.

Standard: Sie erhalten also nur ein sehr indirektes Bild.
Djinovic Carugo: Ja, wir stellen das Bild erst durch Rekombination der verschiedenen Strahlen am Computer her.

Standard: Wie viel davon ist Berechnung, und wie viel ist Interpretation?
Djinovic Carugo: Das ist schwer zu quantifizieren, aber der erste Schritt, die Berechnung, ist mehr oder weniger automatisiert. Danach bedarf es natürlich der Interpretation des Menschen, um festzustellen, was die Röntgenstrahlen zeigen.

Standard: Sind Physiker oder Molekularbiologen für diese Art von Forschung besser geeignet?
Djinovic Carugo: Idealerweise eine Kombination aus beiden. Wir brauchen Leute, die wissen, wie man Proteine kloniert, reinigt und kristallisiert. Und wir brauchen Leute, die physikalisches Wissen für die Analyse besitzen.

Standard: Im Prinzip verwenden Sie die gleiche Technik, die bereits Rosalinde Franklin und Maurice Wilkins bei der Strukturaufklärung der DNA-Helix in den 1950ern verwendet haben.
Djinovic Carugo: Genau, es ließen sich noch andere historische Beispiele nennen. Max Perutz etwa, der als Erster die dreidimensionale Struktur des Hämoglobins aufgeklärt hat. Unsere Methode ist die gleiche; was sich extrem verändert hat, sind zwei Dinge: Heute gibt es viel bessere Röntgenstrahlenquellen, und man kann viel kompliziertere Berechnungen anstellen. Zu Perutz' Zeiten rechnete man noch auf dem Papier. Und natürlich gab es damals auch keine Computergrafiken, die Modelle wurden alle mit der Hand gebaut.

Standard: Wie viele verschiedene Proteine gibt es?
Djinovic Carugo: In der zurzeit größten Proteindatenbank sind etwa 17.000 erfasst. Inklusive aller Mutanten und Varianten sind es rund 70.000. Schätzungen zufolge könnte es bei allen Organismen bis zu 300.000 verschiedene Proteine geben. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.

Standard: Was war Ihre wichtigste wissenschaftliche Entdeckung?
Djinovic Carugo: Das Molekül, das wir am meisten lieben, ist Alpha-Aktin, ein wichtiger Bestandteil des Zellskeletts. Vor zehn Jahren, als wir damit zu arbeiten begonnen haben, konnten wir nur kleine Teile davon darstellen, heute kennen wir die Struktur des gesamten Moleküls.

Standard: Was erfährt man aus der Struktur eines Moleküls?
Djinovic Carugo: Die dreidimensionale Form zeigt, wo sich die einzelnen Atome im Raum aufhalten. Und das zeigt wiederum, wo andere Moleküle, Hemmstoffe etwa, binden. Und man erfährt auch, wie man diesen Vorgang verbessern kann.

Standard: Mit anderen Worten: Sie übersetzen Struktur in Funktion.
Djinovic Carugo: Das ist der interessanteste Schritt in diesem Metier. Je mehr man über die Funktion weiß, desto einfacher ist die Strukturaufklärung. Aber es geht auch in die andere Richtung: Strukturanalysen können auch zu neuen Experimenten in lebenden Zellen führen.

Standard: Strukturforschung ist letztlich eine relativ abstrakte Sache.
Djinovic Carugo: Ich fuhr einmal nach München zu einem Kongress und kam im Zug mit einem Mann ins Gespräch, dem ich, nach einfachen Worten ringend, meine Arbeit zu erklären versuchte. Zum Schluss sagte er: Und sind diese Proteinkristalle hart? Ich sagte: Nein, gar nicht. Das hat ihn schwer enttäuscht.

Standard: Sie haben in Slowenien, Italien, Deutschland und Österreich gearbeitet: Der französische Physiker Pierre Duhem vermutete vor gut 100 Jahren, es gebe so etwas wie nationale Wissenschaftsstile. Können Sie das bestätigen?
Djinovic Carugo: Durchaus. Wenn in Italien ein Experiment nicht funktioniert, sagen die Leute: Mein Fehler! In Deutschland sagen sie eher: deren Fehler. Und natürlich spielt auch die Charakteristik der Sprache eine Rolle. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 24.11.2010)