Nach sehr kurzer Vorbereitungszeit wurde im Oktober 2007 die Cité nationale de l'histoire de l'immigration als nationales Museum der Immigration eröffnet. Sitz des Museums ist der von Albert Laprade entworfene Palais de la Porte Dorée. Die Wahl des Standortes, aber auch die Konzeption des Museums bleiben umstritten. Ute Sperrfechter, Projektleiterin an der Cité, sprach mit daStandard.at über die Entstehungsgeschichte des Museums und den Beitrag, den die Cité in der aktuellen Migrationsdebatte leisten kann.
daStandard.at: Wie kam die Cité nationale de l'histoire de l'immigration zustande?
Ute Sperrfechter: Die Lobbyarbeit für ein Dokumentationszentrum zu Einwanderung in Frankreich hat eine langen Geschichte. Schon vor 25 Jahren haben sich große MigrantInnenvereine und HistorikerInnen zusammengetan und überlegt wie man es machen könnte. Lange Jahre fehlte der politische Wille um es umzusetzen. Der Elektroschock von 2002* war nötig, damit ein breiter Konsens zwischen links und rechts entstand und man sich darüber einig wurde, dass man nicht nur Einwanderern Anerkennung entgegenbringen muss, sondern auch eine Art Erziehungsarbeit im Hinblick auf die gesummte Gesellschaft leisten muss.
Wieso wurde das herrschaftliche Palais de la Porte Dorée als Standaort gewählt?
Sperrfechter: Bei diesem Haus handelt sich um ein 1931 erbautes herrschaftliches Empfangsgebäude für die Kolonialaustellung, die im dahinterliegenden Stadtpark stattfand. Danach hat das Gebäude lange als Kolonialmuseum gedient. Aus dieser Zeit ist im Erdgeschoß des Museums übrigens noch immer ein Aquarium mir exotischen Fischen zu sehen. Zum Zeitpunkt, als Cité einen Standort suchte, wurden die Sammlungen in ein neues Ethnologischen Museum überführt und das Haus stand leer. Die Übernahme des Gebäudes war sehr umstritten. Die Einwanderungsgeschichte ist zwar mit der Kolonialageschichte eng verknüpft, reicht aber auch viel weiter in die französische Geschichte hinein. Die Wahl des Gebäudes war aber auch von der Idee geleitet, im Zentrum zu bleiben, nicht irgendwo in der Industriebrache am Rande der Stadt.
Die Cité ist mehr als ein klassisches Museum. Was wird den Besuchern dort geboten?
Sperrfechter: Die Cité versteht sich natürlich als Museum, aber auch als ein Ort an dem viel mehr stattfindet. Wir haben eine Dauerausstellung, aber auch Wechselausstellungen und ein umfangreiches Kulturprogramm mit Theater, Kino und Konzerten. Wir haben auch eine große Mediathek und eine große pädagogische Abteilung. Die Cité versteht sich auch als Teil eines Netzwerks von MigratInnenvereinen, Städten, Universitäten, usw., welches auch von Anfang an aktiv am Museumsprojekt beteiligt war.
An wen richtet sich das Programm der Cité?
Sperrfechter: Alles was wir machen richtet sich an alle Franzosen. Frankreich hätte ohne Zuwanderung nicht werden können was es ist und das muss als Geschichte weitergegeben werden. Es ist kein Museum von Einwanderern für Einwanderer. Von Anfang an war das Cité als Projekt für die Gesamtgesellschaft konzipiert.
Derzeit ist die Cité von den Sans Papiers** besetzt...
Sperrfechter: Ja, das ist seit einigen Wochen so, obwohl es medial kaum präsent ist. Leider. Die Gewerkschaft CGT verhandelt seit einiger Zeit sehr intensiv mit den Behörden, um eine vereinfachte Bearbeitung der Anträge für die Aufenthaltsgenehmigung zu erreichen. Im Sommer wurde ein Kompromiss geschlossen, der blieb aber ohne Folgen. Daraufhin haben ca. 500 Sans Papiers die Cité besetzt. Sie schlafen bei uns in dem großen Prunksaal voller kolonialer Fresken. Sie leben da und bereiten mit Hilfe der Gewerkschaft und diverser Vereine ihre Einbürgerungsunterlagen vor. Die Cité hilft ihnen soweit es geht. Wir stellen Büros zur Verfügung, versuchen den Dialog mit Behörden zu erleichtern etc. Das stellt uns vor große Herausforderungen: Zum einen ist da die reale Präsenz der Leute, die man auf den Fresken sieht - die Sans Papiers sind durchwegs aus den ehemaligen Kolonien. Zum anderen sind das aber quasi Leute die unterhalb der „Integrationsschwelle" leben und in unserem Museum kaum präsent sind.
Indem Sie die Sans Papiers unterstützen, greifen Sie direkt in die politische Integrationsdebatte ein. Ist das auch ein Teil des Konzeptes?
Sperrfechter: Wir versuchen eigentlich soweit es geht uns rauszuhalten, weil wir immer befürchten instrumentalisiert zu werden. Wir wollen in jede aktuelle Debatte die historische Schärfe hineinbringen und hoffen, dass unsere Besucher die Verbindung selber herstellen könne, damit sie aktuelle Debatten in Lichte der Geschichte und mit den Dekodierungsinstrumenten, die wir Ihnen geben, analysieren könne. Das ist die Perspektive, die jedes historische Museum einnimmt.
Wer ist der "Durchschnittsbesucher! im Cité?
Sperrfechter: Wir werden vor allem von Gruppen besucht. Vorwiegend sind es Schulklassen, weil unserer Dauerausstellung ein wertvolles Material für den Untericht ist. Es kommen aber auch andere Gruppen, wie etwa Alphabetisierungskurse oder StudentInnen. Das individuelle Publikum ist aber schwer zu erreichen. Das gelingt uns mit dem Kulturprogramm ganz gut, aber diese Menschen würden vielleicht nicht in die Ausstellung kommen. Das ist unser Hauptproblem.
Inwiefern kann das Cite als Vorbild für andere Einwanderungsgesellschaften dienen, die noch kein nationales Projekt zur Aufarbeitung der Migrationsgeschichte gewagt haben?
Sperrfechter: Ich denke, dass man die Wichtigkeiten eines Ortes an dem sich die Konflikte, Spannungen und Widersprüche der heutigen Gesellschaft herauskristallisieren lassen, nicht unterschätzen darf. Wir haben den Eindruck, dass trotz der Schwierigkeiten, die so ein Projekt mit sich bringen kann, ein wertvoller Beitrag für die Diskussion geleistet wird. Die Einrichtung der Cité war ein kleiner Quantensprung in der Normalität Frankreichs. Man kommt nicht mehr umhin die Migrationsgeschichte als integralen Bestandteil Frankreichs zu betrachten. Man kann jetzt auf einem höheren Niveau diskutieren. Das ist jetzt Mainstream. Es gibt jetzt ein nationales Museum, das die Realität präsentiert. Davon sind Deutschland oder Österreich noch relativ weit entfernt. (Olivera Stajić, 23. November 2010, daStandard.at)