Hans Wilhelm Geißendörfer

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Vor 25 Jahren eine Familie: Mutter Beimer, Hansemann und Klausi (Mi.). Heute: modernes Patchwork (ohne Marion und Benni).

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Die "Lindenstraße" ist seit 25 Jahren auf Sendung.

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STANDARD: Bedeutet Ihnen das Jubiläum etwas? 

Geißendörfer: Ja, doch. Das ist wie ein Familiengeburtstag. Ich bin darauf stolz, dass so viele bei uns sind, die von Anfang an dabei waren. Es läuft alles ganz gut.

STANDARD: Für wie lange hatten Sie die "Lindenstraße" anfangs geplant?

Geißendörfer: Ich sagte damals zu Gunther Witte, der Redakteur war (und auch den Tatort erfand, Anm.): Wenn ich schon Fernsehen mache, dann sollte es etwas sein, das nicht aufhört. Der Frust beim Kino, eine Geschichte auf hundert Minuten zu drosseln, fiele weg, und man könnte parallel zum tatsächlichen Leben erzählen: Wenn zum Beispiel eine Frau schwanger ist, darf das neun Monate dauern, und man kann esin der Echtzeit erzählen. Insofern war der Wunsch der Neverending-Story von Anfang an da.

STANDARD: Was hat sich verändert? Stimmt der Eindruck, dass mehr außerhalb des Hauses passiert?

Geißendörfer: Das hängt von den Geschichten ab. Die Herztransplantation hat erzwungen, dass wir mehr nach draußen gehen. Aber es ist nicht so, dass wir bewusst mehr Himmel über der Lindenstraße zeigen wollen. Der Trend geht eher in die andere Richtung: Wir müssen mehr im Studio drehen, weil es sonst zu teuer wird.

STANDARD: Leidet die "Lindenstraße" unter der Finanzkrise?

Geißendörfer: Wir haben eben die Verhandlungen für drei weitere Jahre Lindenstraße abgeschlossen. Es wurde von nichts anderem geredet als vom Sparen. Teilweise wird auf obszöne Weise verlangt, dass bei gleicher Qualität alles billiger werden muss. Das geht natürlich nicht. Man kann nicht aus Sand Zement machen. 

STANDARD: Sie müssten doch in einer guten Position sein? Ein Urgestein wie die „Lindenstraße" wird man nicht so einfach aufgeben?

Geißendörfer: Sicher ist viel guter Wille da, und wir kamen schließlich zu einem guten Ergebnis.

STANDARD: Wie groß ist Ihr Engagement bei den Drehbüchern?

Geißendörfer: Ich bin bei den Inhaltsangaben dabei. Die werden halbjährlich in Marathonsitzungen mit den Autoren festgelegt. Dabei besprechen wir 26 Folgen, bevor wir sie dem Sender vorlegen. Danach wird es an die Autoren verteilt und die schreiben dann die Drehbüchern. Es gibt keine Zeile im Dreh, die von mir nicht bewusst gewollt ist. 

STANDARD: Manche Ihrer Kollegen beklagen Einmischung durch Redakteure. Wie geht es Ihnen da?

Geissendörfer: Ich bin in der glücklichen Situation, diese Klage nur sehr selten führen zu müssen. Ich denke, es hängt vom Gegenüber ab. Ein Redakteur kann nur soviel Macht und Zerstörung ausüben, wie man ihn lässt. Jammernden Kollegen rate ich: Das musst du dir nicht gefallen lassen. Es gibt Themen, die wir diskutieren. Ob sie passen, ob sie gegen Rundfunkgesetze verstoßen. In 25 Jahren hatten wir sieben Redakteure: Kein einziger war dabei, der etwas verhindern wollte. Die wissen einfach, dem Hans kann man nicht willkürlich etwas verbiegen, sondern man muss schon verdammt gute Argumente haben. Umgekehrt höre ich dem Redakteur zu: Wenn er mir etwa abrät, der zehnjährigen Lisa Selbstmord machen zu lassen. Er hatte Bedenken, dass unter unseren vier Millionen Zuschauern ein Kind ist, das in einer ähnlichen Situation ist und es nachmacht. Er nahm die Verantwortung des Senders wahr. Wir stoppten die Geschichte, denn er hatte Recht. Wir ließen sie weglaufen und wiederfinden. Sie ist heute noch bei uns - eine große Bereicherung.

STANDARD: Haben Sie eine Systematik entwickelt, wie Sie die Geschichten erfinden?

Geißendörfer: Die Serie ist wie das Leben. Es ist der Alltag, der die Geschichten produziert, und man darf keine Angst haben vor Wiederholungen. Es gibt einfach Liebesgeschichten, die sind Wiederholung. Wenn wir über Arbeitslosigkeit berichten, sind die im Thema identisch, trotzdem ist es immer wieder anders. So wie sich unser Leben ständig wiederholt. Das Wie ist das Interessante beim Geschichtenerzählen, nicht das Was.

STANDARD: Verändert hat sich jedenfalls das televisionäre Umfeld. Beeinflussen Televnovelas, Daily Soaps, Reality Soaps die "Lindenstraße"?

Geißendörfer: Meistens so, dass wir sagen, wir bleiben wie wir sind. Die größten Veränderungen betrafen die Technik: Heute geht alles digital, wir sind 100 Prozent Stereo, machen 16:9, ab nächsten Sommer drehen wir HD. 

STANDARD: Die Serie ist bekannt für Bezüge auf aktuelles Geschehen. Ein Beispiel, wo die "Lindenstraße" die Wirklichkeit beeinflusste?

Geissendörfer: Wenn wir wissen, dass es 2012 Energieversorgungsengpässe geben wird, versuchen wir das aufzunehmen. Beim Thema Atompolitik wusste man bei der Neuwahl, dass der Ausstieg aus dem Ausstieg angesagt ist. Wir konnten das sehr aktuell verwandeln und werden es auch weiterhin tun. Das ist unser kleines Instrument, dem Zuschauer zu sagen, wir sind ganz dicht an der Zeit. Ich glaube nicht, dass wir die Wirklichkeit verändern, aber dass die Zuschauer Stimmungen aufgegreifen.

STANDARD: Schaut Angela Merkel "Lindenstraße"?

Geißendörfer: Ich würde es mir wünschen, dann würde sie vielleicht überlegen, mit dieser gefährlichen Nuklearpolitik Schluss zu machen. Ich weiß, dass es bei der SPD und den Grünen Leute gibt, die Lindenstraße schauen. Von der CDU oder FDP habe ich noch nie jemanden gehört, der sich geoutet hätte.

STANDARD: Österreich sprang ab. Wie kam es dazu?

Geißendörfer: Österreich war 1998 mit 500.000 DM dabei. Nach einem Streit mit der ARD stieg der ORF aus. Ich blickte da irgendwie nicht durch. Die Lindenstraße war das Opfer.

STANDARD: Ihre Lieblingsgeschichte?

Geißendörfer: Es gibt viele. Wie Berta Griese für ihren Lebenspartner eine Niere in Osteuropa kaufte. Wie die Geschichte erzählt wurde, wie Ute Mora es spielte, war super. 

STANDARD: Haben Sie jemals etwas bereut?

Geißendörfer: Die Liebesgeschichte zwischen Jack und Robert. Wir hätten ihn nie sterben lassen sollen. Sonst? Ich habe den einen oder anderen Besetzungsfehler gemacht, aber darüber hinaus waren es Kleinigkeiten.

STANDARD: Verwechslung zwischen real und fiktion: Die Schauspieler werden mit ihrem Rollennamen angesprochen?

Geißendörfer: Das ist immer noch so, aber die Aufklärungsrate steigt. Die Zuschauer wissen mittlerweile, dass wir eine fiktive Sendung sind. Marie Luise Marjan wird heute immer seltener als Mutter Beimer angesprochen.

STANDARD: Frau Marjan beschwerte sich über die Strickwesten, die sie seit Jahren tragen müsse. Geben Sie ihr manchmal Strickjackenerlass?

Geißendörfer: Es gibt keinen Schauspieler, der nicht darauf achtet, was er anhat. Jeder hat seinen Figurenkleiderschrank, in dem er nichts Privates unterbringt. Marie Luise ist sehr darauf bedacht, dass sie gut wegkommt und geht mit der Kostümdesignerin einkaufen.

STANDARD: Und Momo hat Haarschneideverbot?

Geißendörfer: Ja. Er wollte es immer loswerden, aber er hat eingesehen, dass er ohne die Haare kein Momo mehr wäre. Das müsste eine ganz große Geschichte sein, die mit Liebe oder Geld zu tun hätte. Das kann man nicht von einer Folge zur anderen spielen. (Doris Priesching, DER STANDARD; Pintausgabe, 25.11.2010/Langfassung)