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Wie kommt es, dass gesellschaftliche Tabus neuerdings nicht von zornigen Künstlern, sondern von biederen Bankern und Botschaftern gebrochen werden? Hat die Kunst ihre Fähigkeit, Dinge beim Namen zu nennen, verloren?

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Im Wiener Museum moderner Kunst ist derzeit ein Film zu sehen, der eine Aktion von Günter Brus dokumentiert. Er zeigt den jungen Künstler, wie er sich mit einer Rasierklinge die Haut aufschlitzt, in die Wunden uriniert und am Boden wälzt. In der Ausstellung "Direct Art" gibt es zahlreiche weitere Beispiele, die die Radikalität des Wiener Aktionismus in Erinnerung rufen. Der Historiker Fritz Keller spricht in Bezug auf die österreichische 68er-Bewegung von einer "heißen Viertelstunde", deren Protagonisten Künstler waren.

Wer sich die Personen vor Augen hält, die die großen Empörungen der letzten Monate auslösten, ist erstaunt. Es sind keine Angry Young Men, sondern zwei Herren, die ihre heiße Viertelstunde bereits hinter sich haben. In Deutschland bezweifelte Thilo Sarrazin, ein ungelenker Rhetoriker, mit umstrittenen Daten die Integrationsfähigkeit muslimischer Migranten. In Österreich polemisierte der nette Kadri Tezcan gegen die Defizite der Migrationspolitik. Der eine ist seit kurzem die längste Zeit Banker gewesen, der andere ist - noch - türkischer Botschafter.

Wie kommt es, dass nicht zornige Künstler, sondern biedere Banker und Diplomaten gesellschaftliche Tabus brechen? Hat die Kunst ihre Fähigkeit verloren, die Dinge beim Namen zu nennen?

Ein Beispiel. Mitte Oktober wird in der türkischen Stadt Trabzon eine Ausstellung der finnischen Künstlerin Minna Henriksson eröffnet. Im Rahmen des von der EU finanzierten Projekts "My City" weilte die Künstlerin mehrere Wochen in der Stadt am Schwarzen Meer, um ein Kunstwerk im öffentlichen Raum zu schaffen. Sie diskutierte mit Jugendlichen, besuchte Handwerker und vom Abriss bedrohte Stadtviertel. Das Ergebnis ist eine Fotodokumentation, in der sie bewusst alle Türkeiklischees vermeidet: Zwangsehe, Nationalismus, Minderheitenverfolgung. Die Trabzoner mögen die EU-Kunst; sie bekommen Sozialarbeit und Grätzelbetreuung - und ein diplomatisches Schweigen.

Ende Oktober an der Wiener Akademie der bildenden Künste: Die Ausstellung "Living Across" über Kunst und Migration wird eröffnet. Der Redner begrüßt die "... ausländischen" Gäste, wobei er die Anführungszeichen durch ein kurze Pause vor dem Begriff intoniert. Währenddessen beginnt der kasachische Aktionist Alexander Brener zu stören, erst mit Pfiffen, dann beschmiert er sich mit Exkrementen.

Wie reagieren das konsternierte Publikum, die angegriffene Akademieleitung, die Kollegen, deren Werke verächtlich gemacht werden? Verpassen sie dem 53-jährigen Lausbub, der bereits einmal wegen der Beschädigung eines Malewitsch-Bildes im Gefängnis saß, einen Satz heißer Ohren? Holen sie die Polizei? Nein, alle tun so, als wäre nichts. Man will dem unwillkommenen Künstler kein Forum geben. Eine andere Interpretation: Die Identifikation mit der Opferrolle ist so stark, dass man in masochistischer Regunglosigkeit verharrt, wenn ein Täter kommt.

Vor einigen Tagen schließlich veröffentlichte ein Kollektiv von Künstlern, Wissenschaftern und Politaktivisten einen Aufruf, in dem beklagt wird, dass Migration als Problemfeld inszeniert würde. Es wird nicht gefordert, dass über die Ängste der heimischen Mittelschicht vor den Machos mit den vielen Kindern und Frauen diskutiert werden soll. Allen Ernstes heißt es dort vielmehr: "Schluss mit der Integrationsdebatte!" Schon das Wort Integration berge eine Diskriminierung in sich.

Wo Menschen "Migrahigrus" und "Mehrheitsösterreicher" heißen und sich zum "Netzwerk Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung (Kritnet)" zusammenschließen, ist der Bezug zwischen der Sprache und den Dingen gestört. Die Kunstbiennalen und Documentas sind zu Schulen der Höflichkeit geworden, an denen die Sprache des Antiziganismus, des Antirassismus, des Antisexismus und der Antihomophobie gelehrt wird.

Dieser Kunstmainstream der Minderheiten ist zum Synonym für jenen Dschungel der Gänsefüßchen und Binnen-I-s geworden, gegen den die Kritiker der Political Correctness nun mobil machen: "Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!" (Bild-Zeitung)

Wenn man die kritische Kunst der Gegenwart mit Positionen der klassischen Avantgarde vergleicht, könnte man vermuten: Nicht die Bolschewiken und Futuristen sind ihre Ahnherren, sondern die Vertreter einer resignativen Sprachkritik. "Jedes Wort ist ein Vorurteil", heißt es bei Friedrich Nietzsche. Nicht die Wiener Aktionisten würde man dann zur politisch engagierten Kunst zählen, sondern den romantischen Sprachzweifler Peter Handke, dessen Held in der Erzählung Die Angst des Tormann beim Elfmeter (1972) die Wirklichkeit in Bildsymbole zerfallen sieht, ehe sie ganz verstummt. Heute würde Josef Bloch wohl beim Betrachten eines Stuhls aufstöhnen: "Oh je, ein Hakenkreuz!" (Matthias Dusini/DER STANDARD, Printausgabe, 25. November 2010)