Die legendäre Kühlerfigur "Spirit of Ecstasy", die in deutschsprachigen Landen fälschlicher- und unerklärlicherweise "Emily" genannt wird.

Foto: rolls-roycemotorcars.com

Wenn schon, denn schon. Natürlich setzt man sich in einem Rolls-Royce auf die Rückbank. Erstens ist dort die Minibar, zweitens ist es Chauffeur Colin so gewöhnt. Weniger vertraut ist ihm die enge Parklücke am Flughafen Heathrow, aus der er das sechs Meter lange silbergraue Schiff namens Phantom manövrieren muss. Einfahrten zu englischen Landsitzen, auch der Platz vor dem Buckinghampalast sind eher sein Revier. Dort würde er auch eine Chauffeursmütze tragen. Für die Fahrt eines Bürgerlichen vom Kontinent geht's auch ohne.

Sagen wir lieber Reise statt Fahrt, denn schnell wird klar, dass ein Phantom nicht fährt, sondern gleitet, rollt, pflügt, oder wie auch immer man diese Art des Bewegungszustandes nennen mag. Als wäre die Fahrbahn magnetisch, nähern sich die gut 2,5 Tonnen pures Prestige der Ortschaft Goodwood in West Sussex, wo Rolls-Royce seit 2003 seine Wagen baut. Die rot glühenden Rücklichter des zum Gänsemarsch aufgefädelten Abendverkehrs lässt Colin rechts liegen. Im massigen Rückspiegel werden sie zu einer Rotte von Glühwürmchen, während die Scheinwerfer des Rolls-Royce die Power haben, ein ganzes Fußballfeld zu erleuchten. Mit sonorer Stimme erkundigt sich Colin, ob alles zur Zufriedenheit sei. Ob man vielleicht ein wenig fernsehen wolle. Man will nicht. Man ist noch mit der Frage beschäftigt, ob es wohl erlaubt ist, die Schuhe auszuziehen, um den mehr als flauschigen Teppich aus dem extrafetten Pelz kaledonischer Schafe per Socke zu erkunden. Außerdem ist der Ausblick aus dem Fond in den Frontraum der Limousine spannender als die 18 Uhr Nachrichten auf BBC.

Souverän und doch behutsam umfasst Colin das Lenkrad mit jeweils zwei Fingern. An der ersten Kreuzung in einem Örtchen namens Petworth könnte man glauben, der Motor des Rolls-Royce sei abgestorben, so ruhig läuft er. Kraftvoll, aber entspannt wäre eine zulässige Beschreibung. Auch der Vergleich mit einer alten Flasche Bordeaux drängt sich auf. Ganz automatisch trinkt man den Wein langsamer, gerade weil man die Kraft seiner Ruhe schmeckt. Dass der Wagen auch anders kann, zeigt Colin, als ihm der rote Spucker vor seinem Phantom zu lästig wird. Als verfüge das Auto über einen eingebauten Zeitraffer, springt der Rolls-Royce an dem Wägelchen vorbei, um dann wieder in seinem ursprünglichen Bewegungszustand anzukommen. Man möchte meinen, Newton habe das Trägheitsgesetz in einem Phantom ausbaldowert.

Die Geliebte des Adeligen

Ob nun auf der Rückbank oder selbst am Steuer, mit einem Rolls-Royce ist man nie allein, denn da ist Emily. Beziehungsweise nicht Emily, denn kein Brite hat das elfenhafte Wesen auf dem Kühlergrill je so genannt. Nur deutschsprachige Schnösel nennen sie angeblich so. Kein Mensch kennt bei Rolls-Royce den wahren Grund. Auch Colin hat keine Ahnung. Goodwood ist der richtige Platz, der Dame auf die Schliche zu kommen, die seit 1911 jeden Rolls-Royce beflügelt und heutzutage auf Knopfdruck im Kühlerrahmen verschwindet. Ihr wahrer Name lautet "Spirit of Ecstasy". Modell für die Fee stand Miss Eleanor Velasco Thornton, Sekretärin und Geliebte des britischen Adeligen John Walter Edward Douglas-Scott-Montague, der sich seinerzeit für seinen Rolls-Royce eine Kühlerfigur entwerfen ließ. Eleanor Thornton starb 1915 auf der Überfahrt nach Indien, nachdem der britische Passagierdampfer Persia von einem deutschen Kriegsschiff versenkt wurde. Wer ein stählernes Abbild von Eleanor Thornton ohne Auto haben will, kann dieses für circa 1300 Euro in Goodwood erwerben. Angeblich wurde im Gegensatz zu ihr noch kein einziger von allen je gebauten Rolls-Royce geklaut. Auch Colin erscheint diese Geschichte plausibel, "viel zu auffällig", sagt er.

Firmenchef Henry Royce stand nicht so sehr auf Kühlerfiguren. Abgesehen von seinem eigenen Wagen gab er jedoch dem Zeitgeist nach. 1904 hatte sich der Ingenieur mit dem Autohändler Charles Stewart Rolls zu einem als kongenial geltenden Duo zusammengetan. Viel hatte Rolls allerdings nicht mehr davon, er war im Jahre 1910 der erste Engländer, der bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam.

Dass die Rolls-Royce-Autosparte - mit dem Turbinenhersteller verbindet diese nur Name und Logo, sonst nix - gut 90 Jahre später zur BMW Group kam, dürfte eher bekannt sein als das pikante Kramuri, das dem Deal vorausging. Laut Frank Tiemann, Rolls-Royce-Sprecher für Europa, lief die Sache so: 1998 kaufte Volkswagen Bentley und Rolls-Royce, die seit 1931 zusammengehörten. Aber halt nicht ganz: Was den zuständigen Anwalt wahrscheinlich heute noch im Traum verfolgen dürfte, ist die Geschichte, dass VW nicht die Namensrechte an Rolls-Royce erwarb. Diese gehörten dem Flugzeugturbinen-Hersteller Rolls-Royce plc. Und dieser stand BMW nicht nur im Geiste nahe, weil beide in der Vergangenheit sowohl Autos wie auch Flugzeugmotoren gebaut hatten. Man war außerdem über eine gemeinsame Tochtergesellschaft in Deutschland verschwägert. Schließlich kam es zu einem Gentlemen's Agreement: BMW zog mit Rolls-Royce von dannen, VW behielt Bentley und das Werk in Crewe. Für Rolls-Royce hieß es übersiedeln. Ein neues Zuhause wurde hier in West Sussex gefunden, in der sogenannten englischen Toskana.

Was aussieht wie eine hypermoderne Fabrik mit viel Glas, jeder Menge Grün und kleinen Seen rundherum, ist eine gigantische Manufaktur, deren 32.000 Quadratmeter großen Dachflächen das größte bepflanzte Dach Englands sind. Angeblich willigte der Landbesitzer, Lord March, Sohn des Duke of Richmond, nur unter der Bedingung in den Pachtvertrag ein, dass er von seinem Schlafzimmer aus nichts von der Fabrik sieht.

Sandfarbene Kittel und gelbe Linien

Wer nicht zu den 900 Mitarbeitern von Rolls-Royce zählt, trägt hier im Werk einen sandfarbenen Kittel, Marke Schulwart. Damit auch jeder weiß, dass man hier eigentlich nicht hergehört. Ferner wird gebeten, nicht hinter die aufgepinselten gelben Linien zu treten. Tapst man dennoch darüber, erntet man stante pede einen stechenden Blick. In den Hallen ist es im Vergleich zu anderen, großen Autowerken erstaunlich still. Hektik scheint im Gegensatz zu Konzentration ein Fremdwort zu sein, an einem Ort, wo Autos gebaut werden, die sich schon Lenin oder T. E. Lawrence für den Ritt durch die Taiga bzw. Wüste aussuchten. Schnell wird klar, was man hier unter Qualität versteht, und auch die gängige Formulierung, "der Rolls-Royce unter den ...", die für Gesundheitsschlapfen ebenso wie für Kartoffeln oder Feuchttücher herhalten muss, wird nachvollziehbarer. Hie und da ist das Hupen eines Hubstaplers zu hören, ein kurzes, lässiges Hupen, wie das einer Vespa, die am Café einer Piazza vorbeirattert.


Der Rolls-Royce "Ghost" ist der kleine Bruder des RR-Flaggschiffs namens "Phantom".

Simon Baldey ist Herr über 130 Mitarbeiter im sogenannten "Woodshop" von Rolls-Royce. Man könnte auch Tischlerei dazu sagen, würden hier nicht die fitzeligsten Holzarbeiten erledigt, die man sich nur vorstellen kann. Allein im Phantom gibt es 48 Teile aus Holz, allesamt Handarbeit. Baldey zeigt Furniere und spricht von ihnen wie von seltenen Briefmarken. In Furnierlager, in dem es riecht wie im Humidor eines Zigarrenladens, referiert er mit einer Leidenschaft über Maserungen, als wäre er ein Kunsthistoriker, der durch den Louvre führt. Er zeigt Marketerien, lackierte Teile, die wie Tautropfen glänzen, und erzählt von einem Kunden, der alle Holzteile seines Wagens aus einem Apfelbaum seines Gartens wollte. Sie wünschen, Rolls-Royce spielt.

Nur das Leder von Bullen hat eine Chance, zur Sitzbank im Rolls-Royce zu werden, erfährt man eine Abteilung weiter: Tiere aus Süddeutschland, Österreich oder der Schweiz - bloß keine Kühe. Kühe werden trächtig. Wer trächtig wird, kann Schwangerschaftsstreifen bekommen. Das wirkt sich auf die Qualität des Leders aus, heißt es. Bis zu 18 Bullenhäute braucht's für einen Phantom. "Aber keine Angst, die werden nicht extra für uns geschlachtet", sagt Ian Triggs, Herr des Leders bei Rolls-Royce. Auch bei ihm werkeln mehr als 100 Mitarbeiter. Einer von ihnen fertigte die rote Ledertasche für den britischen Schatzkanzler. Hinter ihm hängen wie in der Vorhangabteilung bei Ikea Lederhäute in allen Farben des Malkastens, die penibelst auf Löcher in der Größe von Fliegenaugen kontrolliert werden. Mit einem Laser werden die Formen auf die Häute gespiegelt. Daneben schneiden Maschinen die entsprechenden Vorlagen aus. Das Geräusch, das sie von sich geben, klingt nach einem Jammern und Zetern. Einen Stock höher streicht ein Arbeiter mit einem Fischknochen das Leder auf einer künftigen Hutablage fest.

Extra-Reibach mit Spezialanfertigungen

Bis zu zehn Autos werden hier täglich wie Uhrwerke zusammengesetzt. Mehr als 2000 Stück werden es heuer sein, so viele, wie seit 30 Jahren nicht mehr. 1000 waren es im vergangenen Jahr. 2003 lieferte man 300 Wagen. Gebaut werden die Modelle Phantom in vier Ausführungen und seit einem Jahr Rolls-Royce jüngster Streich namens Ghost - wenn man so will, der kleine Bruder vom Phantom. Auch der, er ist übrigens der schnellste Royce aller Zeiten, bringt es auf stattliche fünf Meter 40 in der Länge und wird, im Gegensatz um Flaggschiff Phantom auch gern von Frauen gekauft. An die zehn Prozent beträgt ihr Kundenanteil am Ghost, der von manchen "der Royce für jeden Tag" genannt wird. Apropos Kundschaft: Den Ghost gibt's ab 213.000 Euro, das Phantom Cabrio ab 390.000 Euro. Ohne Steuern und Extrawürste, mit denen man hier auch noch einen schönen Reibach macht. 90 Prozent der Phantoms sind maßgeschneiderte Einzelstücke, sagt Rolls-Royce CEO Torsten Müller-Ötvös (siehe Interview). Dazu trägt bei weitem nicht nur die Möglichkeit bei, aus 44.000 Außenfarben wählen zu können.

Unterschreibt man nach absolvierter Werkstour einen Wisch, den man lieber nicht durchliest, darf man trotz Rechtsfahrerstatus und Freundschaftsbändchen am Handgelenk ans Steuer eines Ghost. Eingedenk des Satzes "Rolls-Royce is all about arrival and departure" rätselt man zuerst vor allem über die Zahl 570. So viele PS picken einem nämlich nun unterm Hintern. Überraschenderweise fühlt man sich schon nach wenigen Kilometern auf den Straßen von West Sussex ausgerechnet der "Spirit of Ecstasy" in Dankbarkeit verbunden. Spätestens jetzt entdeckt man ihren ungeahnt funktionalen Wert, wenn es um das heikle Verhältnis zwischen Wagengröße und Straßenbreite geht. Behält man das linke Flügelspitzchen des stählernen Engels gleich einem Fadenkreuz im Augenwinkel, wird es leichter den Abstand zum linken Straßenrand einzuschätzen. Der kommt näher, als einem lieb ist. Wie man das Gefühl beschreiben soll? Vielleicht so: Es ist, als würde man in einem Lederfauteuil sitzen, in dem gewisse physikalische Gesetze keine Gültigkeit zu haben scheinen.100 Prozent Respekt und 100 km/h erreicht man in fünf Sekunden, wenn man der Herde wilder Pferde unter der Motorhaube ein bisschen Auslauf gestattet. Das macht die Straße aber auch nicht breiter und die putzige Landschaft, die sich Rosamunde Pilcher hier mit dem Doktor und seinem lieben Vieh teilen muss, macht Pause. Jetzt hat die "Spirit of Ecstasy" Flugerlaubnis. Ursprünglich hätte sie übrigens "Spirit of Speed" heißen sollen. Das erschien Mr. Royce aber zu prahlerisch. Vielleicht hätte ihm Emily auch gefallen. Michael Hausenblas/DER STANDARD/Rondo/26.11.2010)