Eine besondere ästhetische Sensibilität: Martin Pollack.

Foto: Standard/Heribert Corn

Glaubt man György Konrád (und wir haben keinen Grund, ihm nicht zu glauben), dann zeichnet sich der Mitteleuropäer durch eine besondere ästhetische Empfänglichkeit für Komplikationen aus. Anders gesagt, das existenzielle Dasein dazwischen, in der Zone permanenter gesellschaftlich-historischer Nichtrealisierung, weckte eine besondere Sensibilität, sogar bei geografischen Namen. Mitteleuropa ist eine Weltgegend, in der Geografie unmerklich in Poetik übergeht. Daraus ist die Geopoetik entstanden.

Meine eigenen Sensoren reagierten vor 15 Jahren auf den Titel Nach Galizien - und auf die im Untertitel erwähnten Chassiden, Huzulen, Ruthenen und Polen. Noch hielt ich das Buch nicht in der Hand, da erreichten mich von überallher Signale seiner, verzeihen Sie das nichtmitteleuropäische Wort, Message. Noch hielt ich es nicht in der Hand, hatte aber schon Lust, mit seinem Verfasser zu diskutieren. Ihm zum Beispiel darzulegen, dass eben diese Huzulen und Ruthenen als Komponente nicht auf dieselbe Ebene gehören, weil alle Huzulen auch Ruthenen sind, in heutiger Sprache also Ukrainer. Oder, sagen wir, ihn ausführlich darüber zu befragen, was er sich dabei gedacht hatte, als er im Titel die Präposition "nach" verwendete - die Richtung einer Bewegung oder die Feststellung des Todes.

Galizien als Atlantis? Ein verlorener Kontinent? Hatte der Verfasser eben das gemeint, würde ich ihn vom Gegenteil überzeugen. So oder so war ich ihm zutiefst dankbar allein dafür, dass er, ein Mensch des Westens, über unsere Chassiden, Huzulen, Ruthenen und Polen schrieb.

Was das angeht, irrte ich mich allerdings - er ist kein Mensch des Westens, wie er auch keiner des Ostens ist. Martin Pollack ist Mitteleuropäer. Und wie wir schon festgestellt haben, heißt das, dass er über eine besondere ästhetische Sensibilität verfügt.

Beim erneuten Lesen von Der Tote im Bunker werde ich den Eindruck nicht los, gemeinsam mit dem Autor Nachforschungen anzustellen. Im Ukrainischen steckt in diesem Wort die Wurzel "Spur" . "Auf-spüren" kann man verstehen als Erneuerung der verwischten und angeblich verschwundenen Spuren, sie zu lesen, an ihnen zu arbeiten, sie zu bewältigen. Ich könnte es auch Restaurierungsarbeiten zur Erneuerung des historischen Gedächtnisses nennen.

Was aber wissen wir vom historischen Gedächtnis, und wie verstehen wir es? In der heutigen Ukraine manifestiert sich der Regimewechsel, neben anderen unguten Neuigkeiten, in der Einweihung neuer Stalin-Denkmäler. Ja, Sie haben richtig gehört. Das ist keine künstlerische Metapher. Es ist Realität: neue, frisch hergestellte Denkmäler für einen der größten Massenmörder in der Geschichte der Menschheit. Und wissen Sie, wie die Initiatoren diesen Kataklysmus nennen? Sie nennen es Erneuerung des historischen Gedächtnisses und sprechen davon, den Generalissimus anlässlich des 65. Jahrestags des Großen Siegs breit und im ganzen Volk zu ehren.

Das ist nicht nur bitter, sondern tragisch. Es scheint, als hätte es nicht nur die letzten fünf Jahre der "chaotischen Freiheit" unter dem letzten Präsidenten nicht gegeben. Auch die neunzehn Jahre unserer Staatlichkeit gab es nicht, nicht einmal Gorbatschow mit seiner Perestroika und der damaligen schrittweisen Aufdeckung der Stalin'schen Verbrechen. Wo befinden wir uns heute? In den 1970er Jahren, zu Zeiten Generalsekretär Breschnews, inmitten der damaligen UdSSR? Aber selbst Breschnew hat keine Stalin-Denkmäler gebaut - bei all seiner Ehrfurcht vor dem Generalissimus-Kannibalismus.

Wie konnte das in der Ukraine möglich werden? Woher kommt plötzlich dieser anachronistische Präsident mit seiner bandokratischen Regierung und Umgebung? Wie hat er das geschafft - nach einem so ungewissen Sieg bei wieder einmal nicht ganz ehrlichen Wahlen -, in wenigen Wochen im ganzen, noch immer geschockten Land die absolute Macht zu ergreifen? Woher kommt dieser Neostalinismus?

Ich habe meine eigene Erklärung, warum es so gekommen ist: Bei uns wird zu wenig Martin Pollack gelesen. Wir kennen seine Werke nicht. Und dagegen muss natürlich unbedingt etwas unternommen werden. Eine vollwertige und rücksichtslose Arbeit an der Vergangenheit hat bei uns auch deshalb nicht stattgefunden, weil Martin Pollack noch nicht übersetzt ist. Seine Arbeit ist der unwiderlegbare Beweis dafür, wie viel Publizistik, Reportagen, Übersetzungen verändern können. Mit jener besonderen ästhetischen Sensibilität, von der ich eingangs sprach und die unbedingt durch die Veränderungen im gesellschaftlichen Bewusstsein in Schwingungen gerät.

Höllen-Hinterhalt

Eine nicht bewältigte und sich selbst überlassene Vergangenheit kann jede Minute zurückkehren - ein günstiger Moment, und schon ist sie wieder da. Man darf sie nicht unbeaufsichtigt lassen, denn statt zu vergehen und zu verschwinden, kann sie uns, wie man sieht, jeden Augenblick aus dem Hinterhalt ihrer Hölle anspringen.

Die Vergangenheit auf sicheren Abstand zu halten, sich also ununterbrochen mit ihr zu beschäftigen, erfordert eine klare Positionierung, analytischen Mut und Reinheit in der Forschung. Dies ist das Fundament, auf dem das schöpferische Phänomen Martin Pollack gewachsen ist. Dazu kommt die Vielsprachigkeit - ihre mitteleuropäische Abart, die sowohl wörtlich als auch im übertragenen Sinne zu verstehen ist (auch dies ganz nach Konrád). Über allem existiert aber auch noch ein Überbau, den ich folgendermaßen beschreiben würde: Europa als bewusst gelebte Verantwortlichkeit.

Seine - Europas - Geschichte, also die Geschichte der Beziehungen zwischen seinen Teilen, Kulturen, Völkern, Sprachen, Persönlichkeiten, ist noch immer eine Geschichte von Missverständnissen und Vorurteilen. Die Linien, die Europa heute teilen, sind zum Glück keine Frontlinien mehr, und im Großen und Ganzen nicht einmal mehr Grenzen. Es sind Linien des Unverständnisses, der Dyskommunikation. Nicht nur historische Phobien oder konservierte (latente) Konflikte trennen die Europäer, sondern auch existierende Tabus in den Diskussionen zwischen Ost und West, zwischen den Intellektuellen beider Teile. Es gibt zu viele Dinge, die nicht offen und unvoreingenommen besprochen werden können. Vielleicht bleibt deswegen die Spaltung Europas in Ost und West aktuell, trotz der Bemühungen des Ostens, sich zu verwestlichen, und der offensichtlichen Erfolge des Westens, zu veröstlichen.

Martin Pollack ist einer, der diese Tabus aufbricht, er spricht, wo üblicherweise geschwiegen wird, ge- und verschwiegen. Wobei es dafür scheinbar gute Gründe gibt: Wozu das aus dem Schatten, also der Sphäre des Verschweigens, holen, was zu schmerzen und zu irritieren beginnt, wenn man es nur anfasst? Wozu heute, sechzig Jahre später, aufklären und aufwühlen, warum Rotarmisten am Rande eines österreichischen Dorfes zwei polnische Zwangsarbeiter erschossen? Wozu all diese Nachforschungen? Martin Pollack kennt die Antwort, und sie ist einfach: wegen der Wahrheit. Auch wenn die Wahrheit meistens irritierend und schmerzhaft ist. Und niemals süß.

Bücherraritäten

Einmal wurde ich hier, in Berlin, gebeten, die drei schlimmsten Dämonen des heutigen Europa zu benennen. "Warum glauben Sie, dass es nur drei gibt?" , fragte ich. "Wahrscheinlich gibt es mehr, aber nennen Sie wenigstens drei" , insistierte mein Gesprächspartner. Nach kurzem Schwanken gab ich nach und sagte, was ich glaube. Heuchelei (alias Doppelstandards), Selbstzufriedenheit (alias fehlende Bereitschaft, sich zu verändern) und Unwissen (alias Ignoranz). Auch heute bin ich nicht sicher, ob ich mit allen dreien recht hatte. Eines aber weiß ich genau: Dass Martin Pollack einer ist, der sich in seinem Schaffen diesen drei Dämonen entgegenstellt.

Zum Schluss noch eine Erinnerung - wenn ich schon begonnen habe, vom Persönlichen zu sprechen.

Zum ersten Mal haben wir uns 2001 in Wien getroffen. Da er wusste, dass sich unsere Wege kreuzen würden, hatte er mir ein seltenes Geschenk mitgebracht - zwei Bände Iwan Franko, seltene Erstausgaben aus den Jahren 1903 bis 1905. Er hatte sie bei einem Antiquar in Bratislava erstanden. Was sie dort, in Bratislava, gemacht hatten, ist mir schleierhaft.

Vielleicht auf Martin Pollack gewartet, der sie zweifellos kaufen würde. Bücherschicksale sind oft viel verschlungener als Schicksale von Menschen. "Du kannst sie viel besser brauchen" , sagte Martin Pollack und gab mir diese Bücherrarität zum ewigen Besitz. Da ich damals aber meinen Aufenthalt in den USA fortsetzte, kamen die Franko-Bände nicht zur Ruhe. Denn aus Wien flogen sie mit mir zuerst über Rom nach New York, von wo wir tief ins Innere des Kontinents reisten, nach Pennsylvania. Und schon einen Monat später, als ich die Heimreise in die Ukraine vorbereitete, verfrachtete ich sie mit Dutzenden meiner anderen Bücher auf dem Seeweg zurück in die Heimat.

So überquerten sie wieder den Atlantik - diesmal ostwärts, in irgendeinem Schiffsbauch. Nachdem sie gut in einem der europäischen Häfen angekommen waren, misstrauten sie dem Festland der Alten Welt noch lange. Bis sie eines Tages wieder in meine Hände gelangten, bei mir zu Hause, in der Stadt Iwano-Frankiwsk, dem ehemaligen Stanislau, ziemlich genau da, wo man sie vor hundert Jahren gedruckt und veröffentlicht hatte. So erfüllte sich die Geschichte mit dem treffenden Titel Nach Galizien von Neuem. (Juri Andruchowytsch, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 27./28. November 2010)

Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr.