Chopin (Nikodem Wojciechowski) vorn und Chopin auf der Bühne (Yu Yang) spielen im Pekinger Nationaltheater gemeinsam.

Foto: Wang Xiaoying

In China boomt der Chopin-Kult: Sein Einfluss prägt musikalische Wunderkinder.

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Auf der Pekinger Bühne wird geschossen. Hauptdarsteller Yu Yang flieht vor seiner Verhaftung ins Pariser Exil, wo ihn eine in Männerkleidung auftretende, rauchende Frau sexuell in ihren Bann zieht. Leidenschaftlich küssen sie sich. Im Schlussakt siecht er an seiner Tuberkulose im Totenbett dahin. Mit großen Augen verfolgen im Publikum auch viele sieben- bis zehnjährige Kinder das für Erwachsene verfasste Drama.

Ihre Finger zucken, wenn sich immer wieder das Szenenbild verdunkelt. Dann schwebt an einem Steinway-Flügel Polens Klaviervirtuose Nikodem Wojciechowski aus der hydraulischen Vorbühne ins Bild. Das "Nationaltheater" wird zum Konzertsaal für die Klaviermusik von Frédéric François Chopin, geboren vor 200 Jahren.

Mit Applaus werden vertraute Polonaisen, Klavierkonzerte, die Regentropfenprélude oder die Revolutionsetüde begrüßt. Zwischen den Sitzen raunen aufgeregte Kinderstimmen: "Das kann ich auch."

Der 53-jährige Regisseur Wang Xiaoying sagt, dass er "bewusst Eltern mit Kindern zu einer Zielgruppe gemacht hat." Schüler sollten die Kompositionen nicht nur technisch spielen können, sondern Gefühl für seine Musik aufbringen. Wang hat Chopins Lebensweg als zweieinhalbstündiges Musikdrama inszeniert. Es entfaltet sich zwischen der gleichen Anfangs- und Schlussszene, dem Tod Chopins. Im Sterben verlangt er, sein Herz aus Paris nach Warschau zu überführen. "Meine Aufführung ist eine Hommage an den Patrioten Chopin, der in dem Weltkünstler Chopin steckt. Ich huldige beiden. Das Thema ist für das heutige China und seine Gefühlswelt von besonderem Reiz."

Bei der Premiere im Juni wurde die Aufführung mit Chinas weltberühmtem Chopin-Preisträger Li Yundi als musikalisches Alter Ego besetzt. Zur zweiten Runde gastiert nun im November Polens 20 Jahre alter Klaviervirtuose Nikodem Wojciechowski. Südchinas Städte werden im Dezember die Pekinger Aufführung übernehmen. Sie bleibt fix im Repertoire des Nationaltheaters. Als Vorlage wählte Wang den 1945 in den USA gedrehten Klassiker A Song to Remember und verarbeitete Biografien über Chopins Schicksalpartnerin George Sand. Die "Mann-Frau" fasziniert Chinas Öffentlichkeit ebenso wie Chopin. Bei Wang sagt sie am Ende: "Ich erwarte nicht, dass ihr mein Verhältnis zu Chopin versteht."

Die Schüler sind einer der Schlüssel, um Chinas Faszination mit Chopin zu begreifen. Der steht mit seinen Kompositionen heute Pate für eine überraschende Zahl an musikalischen Wunderkindern des Klavier. Der heute 28-jährige Li Yundi, der 2000 den Internationalen Chopin Preis in Warschau gewann, der ebenfalls 28-jährige Weltstar Lang Lang oder der erst 13-jährige Niu Niu sind nationale Vorbilder.

Sie ernten internationalen Ruhm mit Millionengagen und sind die erste Generation, die Chinas neue kulturelle Softpower global verbreitet. 36 Millionen Klavierschüler in Chinas Einkindfamilien sind die riesige Nachhut, die mit Fingerübungen zur Musik Chopins aufwachsen. Das Piano ist zum Statussysmbol des neuen Mittelstandes geworden, ein Instrument, über das sich die ehrgeizigen Erwartungen von Eltern in ihre Einzelkinder erfüllen sollen.

Am besten im Stakkato: China ist heute zum Weltmarktführer unter den Klavierherstellern aufgerückt. 2009 stellten 25 Klavierbau-Fabriken 324. 000 Pianos und Flügel her. Chopins Melodien schwingen nicht nur in den Konzertsälen mit. Sie ertönt als Hintergundmusik in Einkaufszentren, in Expressliften der Hochhaustürme, als Handyklingelton.

Gemeinsam mit Japan und Südkorea läuft die Volksrepublik Europa den Rang ab. Die Erkenntnis veranlasste Polens Regierung im Jubiläumsjahr Chopins ihr Kulturmarketing vor allem auf USA, Russland, Asien und eben auf China auszurichten. Zur Shanghaier Expo 2010 hisste Polen die Fahne Chopins. Acht Millionen Besucher zog ihr Chopin gewidmeter Pavillon an. Die Metropole Shanghai hatte schon 2007 dem Komponisten ein Sieben Meter-Denkmal im Zhongshan-Park bauen lassen, die höchste Chopin-Statue der Welt. Seine Kompositionen passen zu einer Zeit, in der die Menschen in China den Spagat zwischen Globalisierung, Anspruch auf Weltbürgertum und einheimischem Nationalismus lernen müssen. Regisseur Wang Xiaoying glaubt, dass der Grund für die chinesische Chopin-Begeisterung neben der starken Botschaft des Patriotismus auch die "Anmut einer Musik ist, die die ihr innewohnende Wehmut nicht verbirgt."

So unumstritten wie heute war Chopin nicht immer. Seine Musik wurde in der Kulturrevolution, so wie die von Beethovens als bourgeois verfemt. Rotgardistenblätter nannten sie erbärmlich, angesichts des "revolutionären Kampfes der polnischen Massen gegen die zaristischen Unterdrücker." Die Kulturrevolutionäre verfolgten Musiker, die in den 50er Jahren nach Polen zum Chopin-Spielen fuhren, wie die 1958 eingeladene Klaviervirtuosin Gu Shengying, die nach 1966 in den Selbstmord getrieben wurde.

Politisch verfolgt

Ein erschütternder Briefwechsel 1954 bis 1966 zwischen dem Chopin-Virtuosen Fu Cong und seinem Chopin liebenden Vater Fu Lei, ein berühmter literarischer Übersetzer, erschien in den achtziger Jahren und wurde millionenfach verkauft. Fu Cong war der erste Chinese, der 1955 im polnischen Chopin-Klavierwettbewerb gewann. Er konnte für Jahrzehnte nicht nach China zurückkehren, weil sein Vater dort politisch verfolgt wurde. Beide durften aber Briefe schreiben, in denen sie sich über Chopin austauschten.

In der Kulturrevolution verübte der Vater Selbstmord. Der Bann gegen die klassische westliche Musik endete am Sylvesterabend 1976, drei Monate nach Maos Tod´. Die Radiosendung zum neuen Jahr spielte Beethovens Schicksals-Sinfonie, ein Signal für ein kulturelles Tauwetter.

Auf Beetoven folgte Johann Strauß, zu dessen Walzer die Chinesen Anfang der Achtzigerjahren tanzten. Mit der Einkindfamilie und dem Boom des Klaviers kam dann die Stunde für Chopin. Sein Stern ging über China auf. (Johnny Erling, DER STANDARD - Printausgabe, 27./28. November 2010)