Kaum fordert jemand ein "Ende der Integrationsdebatte", sehen sich die derStandard.at-Poster gleich ihrer Grundfreiheiten beraubt.  Politikexperten beschwerten sich, dass solche Appelle grundsätzlich undemokratisch seien, andere Kommentatoren beschieden den Unterzeichnenden eine "gefährliche" Naivität.

Wenn man sich die Liste der ErstunterzeichnerInnen anschaut, ist nicht wirklich zu glauben, dass diese Leute nicht wussten, was sie tun, nicht verstanden haben was sie unterschieben haben. Es ist auch kaum anzunehmen, dass sie nicht den „Gelehrtenfatwa"-Effekt voraussehen konnten, mit welchem der Appell bei manchen LeserInnen in der Tat ankam.

Debattieren als Gewohnheit

Dass ausgerechnet namhafte SchriftstellerInnen, KünstlerInnen, Universitätslehrende, erfahrene PolitikaktivistInnen nicht wissen, was „Schluss mit der Integrationsdebatte" bedeutet, ist auszuschließen. Denn es handelt sich ja gerade um Leute, die von Redefreiheit, von Debatten leben, und zu schätzen wissen, was Debatten für sie und die Gesellschaft bedeuten. Vielmehr wurde genau diese Irritation als Effekt gesucht. Vielleicht ist das die einzige Möglichkeit, gegen das Etwas, was man „Integrationsdebatte" nennt, zu protestieren - darauf aufmerksam zu machen, dass wir uns an dieses Etwas gewöhnt haben und daran nichts Störendes mehr finden.

Sieht man also in dem Appell eine künstlerische Intervention, die provozieren will, aber auch eine Debattenwendung zu setzen sucht, ist in diesem Fall die Textur des Appells nicht so wichtig wie seine Funktion, Unmut und Protest zu artikulieren, Reaktionen zu provozieren, die man mit konventionellen Mitteln nicht auslösen kann. Also tut der Appell mehr und etwas anderes, als er sagt.

Alle sind betroffen

Sehen wir es als eine politische Handlung, die nicht die öffentlichen Diskussionen generell verbieten, sondern gegen die Gewohnheit rebellieren will. Eine Intervention, die gegen die Kapitulation der Gesellschaft gegenüber den Botschaften, der Sprache und den Bildern genau dieser „Integrationsdebatte" hier und jetzt protestieren will.  Denn damit ist eine „Debatte" gemeint, die man nicht vermissen wird, der man passiv zuschaut, der man als Bürger ausgeliefert ist, von welcher Zugewanderte und Mehrheitsbevölkerung gleichermaßen ausgeschlossen sind. Die Früchte dieser „Debatte" spüren alle am eigenen Leib, alle sind davon betroffen. In dieser „Debatte" wird nicht debattiert, sondern geschwiegen und monologisiert. Mit dem Euphemismus „Integrationsdebatte" werden das andauernde Nichtstun, die politische Ratlosigkeit und Mutlosigkeit verschleiert und gerechtfertigt - "wir debattieren halt noch darüber." Gleichzeitig gedeihen in dieser „Debatte" die „Blumen des Bösen". 

Genauso wenig, wie es sich um eine Debatte handelt, handelt die „Integrationsdebatte" von Integration von MigrantInnen, nicht einmal von Assimilation ist die Rede. Das Thema dieser „Debatte" ist die Repression. Egal, wie verpackt, wie offenkundig oder unterschwellig im Vorfeld der Wiener Gemeinderatswahlen argumentiert wurde, es ging um die repressive Gestaltung der Integration, der Aufnahme, des Alltags, der Zukunft von MigrantInnen.

Die Rechten geben den Ton an

Es geht aber auch um eine Repression, die die gesamte Gesellschaft in Mitleidenschaft zieht. Denn in der „Integrationsdebatte" haben längst rechtspopulistische Stimmen die Themenführerschaft übernommen. In dieser „Debatte" werden die rechtpopulistischen Visionen von Integration und Migration besprochen, ab und zu wird ihnen auch widersprochen, aber jene Stimmen, die Integrationsgestaltung auf dem Weg von Gerechtigkeit und Anerkennung fordern,  werden systematisch überhört - nicht zuletzt durch die Mitwirkung von Massenmedien. An so eine „Integrationsdebatte" ist der „Schluss"-Appell gerichtet, mit dieser „Debatte" rechnet die Aktion ab. Eine „Debatte", die keine Debatte ist, über eine „Integration", die keine ist. (derStandard.at, 29.11.2010)