Der hundertste Geburtstag von Bruno Kreisky nähert sich, und es sieht ganz so aus, als würde dieses Jubiläum mit beispiellosem Aufwand gefeiert werden. Eine wahre Fülle von Büchern, Filmen, Dokumentationen kommt auf uns zu. Je mieser die Politik derzeit dasteht, umso grösser ist offensichtlich die Nostalgie nach einer Zeit, in der das nicht so war und nach einer Politikerpersönlichkeit, der die Menschen vertrauten. Dabei war die Zeit, in der Kreisky antrat, von der heutigen nicht gar so verschieden. Auch damals hatten die Leute die scheinbar ewige große Koalition in Österreich satt. Auch damals hatte sich ein über Jahrzehnte zurückgehaltener Reformstau angesammelt - in der Frauenpolitik, in der Justizpolitik, in der Bildungspolitik. Auch damals meinten viele: So kann es nicht weitergehen.
Aber es gab auch Unterschiede. Der wichtigste: Es herrschte Konjunktur. Wenn genug Geld da ist, fallen Reformen leichter. Außerdem stand eine zahlenmäßig starke junge Generation bereit - die Babyboomer -, die die Studentenbewegung erlebt hatte und sich nach mehr Weltoffenheit, mehr Gerechtigkeit, mehr Erneuerung sehnte. Der Wind wehte von links. Die Siebzigerjahre - Kreiskys große Zeit - waren das sozialdemokratische Jahrzehnt. Es wurde nicht nur von Bruno Kreisky in Österreich geprägt, sondern auch von Willy Brandt in Deutschland und Olof Palme in Schweden.
Heribert Prantl hat vor kurzem in der Süddeutschen Zeitung die Nachkriegszeit in Deutschland in drei Epochen aufgeteilt. Die Fünfziger- und Sechzigerjahre gehörten der CDU, der großen konservativen Volkspartei, in die sich die Menschen nach der Naziperiode flüchteten. Es folgte die Epoche der Sozialdemokraten. Jetzt aber komme die Stunde der Grünen, die sich in unserem Nachbarland anschicken, die dritte - und möglicherweise zukunftsträchtigste - Volkspartei zu werden.
Die ersten beiden Thesen treffen auch für Österreich zu. Auch bei uns war die ÖVP zunächst die dominierende Kraft, die später von der SPÖ abgelöst wurde. Aber die expandierende dritte Partei sind nicht die Grünen, sondern die FPÖ. Kreisky baute seine absolute Mehrheit seinerzeit auf den Werten der Sozialdemokratie auf, auf denen des liberalen Bürgertums und ein wenig auch aus der Aura des alten österreichischen Vielvölkerstaates. Er wurde später viel kritisiert, weil er zunächst auch die FPÖ in seine Regierung nahm.
Es stimmt, der damalige Parteichef Friedrich Peter war ein alter Nazi. Aber er hatte aus der Geschichte gelernt. Man einigte sich auf der Basis der (auch) liberalen Traditionen des dritten Lagers, der bürgerlichen Revolution von 1848 und dem gemeinsamen Willen zur Modernisierung des Landes. Es war keine Kapitulation, sondern ein Stück demokratische Erziehungsarbeit.
Wäre etwas Ähnliches heute denkbar? Nein. Wer heute Wege sucht, um aus der Lähmung der großen Koalition herauszukommen, müsste, wie Kreisky, die besten Traditionen des Landes bündeln und nicht vor dem Populismus in die Knie gehen. Heute wie damals gibt es im Lande eine Sehnsucht nach Erneuerung. Aber die Alternative zur großen Koalition heißt diesmal nicht Kreisky, sondern Strache. (Barbara Coudenhove-Kalergi, DER STANDARD, Printausgabe, 30.11.2010)