STANDARD: Ein Körper, der sich aus eigener Kraft immer wieder von selbst erneuert, ist ein beliebtes Science-Fiction-Szenario. Wie sieht die Realität aus?
Ankersmit: Wir befassen uns mit jenen Mechanismen des Körpers, die immer dann aktiviert werden, wenn es zu Schäden und Verletzungen kommt. Unser Fokus liegt auf Lunge, Herz und Haut, konkret sind es die Chronisch Obstruktiven Lungenerkrankung (COPD), Herzinfarkt und Schäden, die durch Entzündungen entstehen.
STANDARD: Das sind doch komplett unterschiedliche Krankheitsbilder.
Ankersmit: Der Schaden ergibt sich aus unterschiedlichen Gründen. COPD ist eine Art Autoimmunerkrankung, bei der körpereigene Lungenstrukturzellen angegriffen werden, beim Herzinfarkt kommt es aufgrund einer Mangelversorgung des Muskels zu einer Entzündung, bei Verbrennungen löst der Schaden, der auf der Haut entsteht, dann ebenfalls eine Inflammation aus.
STANDARD: Was genau passiert bei diesen Verletzungen?
Ankersmit: Sehr anschaulich lässt sich das an Hautverbrennungen erklären. Der Körper hat eine Art Alarmsystem, das akut bei jeder Verletzungen aktiviert wird. Dann passiert folgendes: Das Immunsystem schickt eine ganze Reihe verschiedener Zellen, unter anderem weiße Blutkörperchen, in das geschädigte Gebiet. Besonders interessant ist die Tatsache, dass sich das Wundareal eine gewisse Zeit nach der Verletzung erst einmal vergrößert. Bei Verbrennungen sieht man das sehr gut. Zwei Tage nach dem Unfall vergrößert sich die Wunde. Wir sprechen hier vom "second burn" . Im Herzen ist das nach einem Infarkt sehr ähnlich.
STANDARD: Was hat das für einen Sinn?
Ankersmit: Dadurch, dass viele Abwehrzellen dort einwandern und sich der initiale Schaden vergrößert, entsteht eine Entzündung. Das wiederum führt aber dazu, dass im Entzündungsareal ein sehr abgeschlossener Bereich entsteht, in dem eine ganz spezifische Mikro-Umgebung herrscht. Diese Beobachtung ist durch zahlreiche Publikationen dokumentiert. Für mich sind die Folgerungen dieser Beobachtung entscheidend. Wir dachten anfänglich, wir könnten Stammzellen in verletzte Areale schicken, damit sie dort den Regenerationsprozess aktiv vorantreiben. Doch wie sich nun herauskristallisiert, verhindert gerade jene Entzündung, dass Stammzellen sich in verletzten Bereichen überhaupt ansiedeln können. Der Prozess, den wir "Homing" von Stammzellen nennen, funktioniert nicht. Diese Erkenntnis hat wirklich weitreichende Konsequenzen.
Standard:Weil die Forschung nun anders über Stammzellen nachdenken muss?
Ankersmit: Ja, denn es bedeutet, dass die Entzündung verhindert, dass Stammzellen sich in geschädigtem Gewebe ansiedeln und ihren Benefit dort entfalten können. Das Mikromilieu verhindert regenerative Potenziale von Stammzellen und genau das wird eines der wichtigsten Kongressthemen sein.
STANDARD: Das müsste bei Stammzelltherapien in den letzten Jahren aber anderen Forschern doch bereits aufgefallen sein?
Ankersmit: Ist es auch, zum Beispiel bei Infarkt-Patienten. Man hat genau beobachtet, wohin injizierte Stammzellen wandern und hat festgestellt, dass sie kaum im Infarktareal des Herzens zu finden sind, sondern nur in Milz, Leber und Knochenmark.
STANDARD: Wirken Stammzellen nur dort, wo sie sich physisch befinden oder auch auf Distanz?
Ankersmit: In den letzten drei Jahren sind in der Literatur Arbeiten publiziert, die die Plastizität, also die Wandelbarkeit der Stammzellen, infrage stellen. Gleichzeitig ist gezeigt worden, dass nicht die Stammzelle selbst regeneratives Potenzial entfaltet, sondern jene Vielfalt an Proteinen dafür verantwortlich ist, die von Stammzellen produziert werden, nämlich das Sekretom.
STANDARD: Was weiß man von Stammzell-Sekretomen?
Ankersmit: Stammzellen kann man sich als Bioreaktoren vorstellen, die unter Laborbedingungen Proteine aktiv absondern. Dieser Proteinmix wird als Stammzell-Sekretom bezeichnet. Hierzu gibt es schon experimentelle Daten, die zeigen, das dieser Proteinmix Regenerationsmechanismen im Reagenzglas auslösen kann. Einer der Pioniere in dieser Hinsicht ist Kai C. Wollert aus Hannover. Er wird am Kongress sein.
STANDARD: Ergeben sich dadurch neue Therapieansätze?
Ankersmit: Aus meiner Sicht ist das eine der größten Herausforderung in den nächsten Jahren. Es geht darum, Sekretome von verschiedenen Stammzellen und anderen bei Schäden involvierten Zelltypen zu definieren und ihre Wirkung auszuloten.
STANDARD: Was wäre der Unterschied zwischen Stammzelltherapie und Sekretom-basierter Therapie?
Ankersmit: Die Stammzelle hat Oberflächen-Antigene. Sie lösen eine Immunantwort aus.
STANDARD: Warum ist das wichtig?
Ankersmit: Weil körperfremde Stammzellen ja abgestoßen werden. Deshalb konnten die "adulte Stammzelltherapie" etwa bei Herzinfarkt immer nur mit körpereigenen Stammzellen durchgeführt werden. Man hat diese Zellen separiert, kultiviert und dann Infarktpatienten wieder zugeführt. Der positive Effekt dieser Therapie war nach Herzinfarkten aber sehr gering, im Langzeitverlauf haben sich Vergleichswerte wieder nivelliert. Im Kontrast dazu würde hypothetisch die Sekretom-basierte Therapie folgenden großen Vorteil besitzen: Keine Immunreaktion im Empfänger, da keine Zellen transplantiert werden müssen, sondern nur ein Proteingemisch verabreicht wird. Diese Art von Substanz könnte man als Biological, also als von der Natur produziertes Arzneimittel bezeichnen. Ein zweiter Vorteil wäre die schnellere und einfachere Anwendbarkeit dieses Therapeutikums nach einem Infarkt.
STANDARD: Ein von menschlichen Zellen gewonnenes Medikament?
Ankersmit: Das ist die Idee.
STANDARD: Auch die Abstoßungsproblematik wäre dadurch umgangen?
Ankersmit: Der Theorie zufolge ja. Wir sehen Potenziale. Eine Schweizer Gruppe hat im Tiermodell bereits gezeigt, dass Sekretom basierte Therapie Regeneration auslöst.
STANDARD: Wie interagieren Stammzellen mit dem Immunsystem?
Ankersmit: Natürlich interagieren Stammzellen mit dem Immunsystem. 2005 hat Professor Anker aus Berlin eine interessante Hypothese aufgestellt. Seine Theorie besagt, dass in Stammzellen, die dem Körper entnommen werden, sofort der programmierte Zelltod, die Apoptose, eingeleitet wird. Werden diese Stammzellen dann dem Körper in Infusionen wieder zugeführt, erzeugt das eine Immunsuppression. Dieser Effekt wird aber nicht, wie man dachte, durch die regenerative Kraft der Stammzellen erzeugt, sondern ist eine Folge der Interaktion von apoptotischen Zellen und dem Immunsystem. Diesen Effekt konnte man im Tiermodell beobachten. Anker hat hypothetisiert, dass eine Stammzellinfusion nichts anderes als eine Immunsuppression nach dem Herzinfarkt bewirkt und Entzündung verhindert.
STANDARD: Wo sehen Sie in Zukunft Einsatzmöglichkeiten für Sekretom-basierte Stammzelltherapie?
Ankersmit: Potenzial sehe ich für Herzinfarktpatienten, die akut nach dem Ereignis eine Sekretom-basierte Stammzelltherapie erhalten könnten. So könnte sich die regenerative Wirkung entfalten, noch bevor die sekundäre Entzündung entsteht. Bis es soweit ist, liegen noch viele Schritte vor uns. Es wäre unseriös, exakte Zeitangaben zu machen. Wichtig ist, dass wir interdisziplinär versuchen, Entzündungsprozesse besser als bisher manipulieren zu können. (DER STANDARD, Printausgabe, 01.12.2010)