Die amerikanische Diplomatie hat eine vernichtende Niederlage erlitten. Dass 251.287 Dokumente aus dem Bestand des US-Außenministeriums gestohlen und ungehindert veröffentlicht werden konnten, ist zweifellos eine einzigartige Blamage für die westliche Führungsmacht. Niemand kann heute freilich abschätzen oder voraussagen, wie groß der politische Schaden eigentlich ist.

Was man allerdings bereits jetzt auf der Grundlage der internationalen Presseberichte feststellen kann, ist der Eindruck, dass gerade in einer weltweiten politischen und wirtschaftlichen Krisensituation die amerikanische Diplomatie aus den Fugen geraten ist. Warum? Als Bruno Kreisky - zu seinem 70. Geburtstag, glaube ich - ein lebenslanges Abonnement der Neuen Zürcher Zeitung bekam, sagte er mir lächelnd, nun brauche er nicht mehr die Depeschen der österreichischen Diplomaten zu lesen, wo doch alles Wichtige sowieso in der NZZ stehe. So betonten auch diesmal die Beobachter, dass alles, was etwa der US-Botschafter über die deutsche Regierung schrieb und jetzt von der Enthüllungsplattform Wikileaks zur Verfügung gestellt wurde, in allen Zeitungen zu lesen war. Auch viel anderes Material, jetzt von den fünf glücklichen Abnehmern (Spiegel, New York Times, Guardian, El País und Le Monde) in sensationalistischer Aufmachung präsentiert, entpuppt sich als belangloser Tratsch.

Ob der französische Präsident nach seinen politischen Niederlagen als ein "Kaiser ohne Kleider" beschrieben oder über die Rolle einer üppigen ukrainischen Krankenschwester in der Entourage von Muammar Al-Gaddafi bei seiner Europareise spekuliert wird, ist ebenso belanglos wie die "Neuigkeit", dass Silvio Berlusconi "wilde Partys" veranstaltet. Es versteht sich von selbst, dass es unter den von 250 Vertretungen produzierten Berichten auch wichtige und politisch brisante Handlungsanweisungen oder heikle Analysen, vor allem in Bezug auf den Iran und die arabischen Staaten, Zentralasien, China, Russland und Nordkorea gibt.

Die Motive von Wikileaks sind unergründlich, und man weiß auch nicht, ob wirklich, wie angedeutet, schließlich fast drei Millionen Dokumente ins Netz gestellt werden. Die ausgewählten Medienunternehmen beteuern, dass die Informationspflicht gegenüber der Öffentlichkeit gegenüber dem vertraulichen Charakter und den möglichen Folgen für die US-Diplomatie Vorrang habe. Die New York Times rechtfertigt sich so: "Die Amerikaner haben ein Recht zu erfahren, was in ihrem Namen geschieht."

Es ist nicht oder noch nicht ersichtlich, wie viel Sprengstoff das Material über die Türkei oder die arabischen Staaten und den Iran enthält. Dass der ganze Aufbau des Informationsbeschaffungssystems chaotisch gewesen sein muss, lässt die Vermutung zu, dass die diplomatischen Depeschen etwa von einer halben Million US-Bediensteter mitgelesen werden konnten.

Die gigantische und politisch folgenschwerste Panne erschüttert das Vertrauen in die USA weltweit vor allem deshalb, weil sie die Vertraulichkeit als Grundlage der zwischenstaatlichen Kommunikation zerstört hat. Es wird lange dauern, den Schaden zu reparieren. (Paul Lendvai/DER STANDARD, Printausgabe, 2.12.2010)