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Der Mann, der seit fünf Tagen im Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit steht, hält sich derzeit verborgen. Seinen Aufenthaltsort kennen nur Vertraute. Einziges Lebenszeichen bisher: ein Interview via Skype.

Foto: APA/EPA

Ein Sonderling mit Sendungsbewusstsein. Ein tapferer Ritter in der Höhle des Löwen. Ein Physiker mit einem Commodore 64 und Sehnsucht nach strengen Regeln. Wer ist Wikileaks-Gründer Julian Assange? Ein Porträt.

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Im April war er zum letzten Mal in Washington, im National Press Club, einer feinen Adresse, nur einen Steinwurf entfernt vom Weißen Haus. Julian Assange stand markant im Rampenlicht, ein Mann, dessen Gesicht man sich sofort merkt. Noch keine vierzig, aber schon schlohweißes Haar.

Der Australier war gekommen, um ein bis dato geheimes Video vorzustellen. Unter dem anklagenden Titel "Kollateralmord" zeigte es amerikanische Soldaten, wie sie in Bagdad von einem Hubschrauber auf Zivilisten feuern, die Kamera eines Fotografen mit der Waffe eines Aufständischen verwechseln und das Blutbad geradezu schockierend kaltblütig kommentieren. Es war ein echter Coup, vom tapferen Ritter in der Höhle des Löwen war die Rede.

Derzeit ist der Wikileaks-Gründer abgetaucht. Seinen Aufenthaltsort kennen nur Eingeweihte, vermutet wird er in Großbritannien (s. Artikel unten). In den USA denkt Justizminister Eric Holder darüber nach, Klage gegen ihn zu erheben, womöglich nach dem Espionage Act von 1917, wonach sich strafbar macht, wer Geheiminformationen verbreitet. Bei einem Amerikaner greifen die Paragrafen, aber bei einem Australier?

Einen Gerichtsprozess, wenn es denn dazu kommt, hat Assange schon einmal durchgestanden. 1991 knackte der junge Hacker, der sich damals Mendax nannte, den Zentralcomputer der kanadischen Telefongesellschaft Nortel, wobei eine launige Nachricht seinen Sinn für Humor verriet. "Es war nett, mit Ihrem System zu spielen. Wir haben nichts kaputtgemacht und sogar ein paar Sachen verbessert. Bitte rufen Sie nicht die Polizei." Drei Jahre später stand er vor einem Richter, bis zu zehn Jahre Gefängnis drohten, schließlich blieb es bei einer Geldbuße. Denn der Mann in der Robe sah nichts anderes im Spiel als "eine Art intellektueller Neugier" . Ken Day, der Detektiv, der die Ermittlungen leitete, glaubte, ein anderes Motiv erkannt zu haben: "Ich denke, er handelte aus der Überzeugung heraus, dass jeder Zugang zu allem haben soll."

Ein selbstloser Anarchist, misstrauisch gegenüber jeglicher Staatsbürokratie, inspiriert durch die Romane Franz Kafkas und Alexander Solschenizyns - so wird er seither oft beschrieben. Politisch geht es für Assange nicht um Kriterien wie links oder rechts, sondern um die schrankenlose Freiheit des Einzelnen im Konflikt mit etablierten Institutionen. Nach dieser Logik darf ein Informationsleck als Mittel dienen, um dem Staat Macht zu entreißen, zugunsten des Individuums. "Ich bin Journalist, Publizist und Erfinder" , umreißt der 39-Jährige sein Credo. "Ich habe versucht, ein System zu erfinden, das das Problem der Pressezensur löst."

Der Name Assange, er geht auf Ah Sang zurück, einen Chinesen, der im 19. Jahrhundert nach Australien auswanderte. Mütterlicherseits stammen die Vorfahren aus Irland und Schottland, Bauern, die in der Weite des dünn besiedelten Kontinents ein besseres Leben erträumten. Julian Paul Assange wird 1971 in Townsville an der australischen Nordostküste geboren. Er führt ein aufregendes Vagabundenleben, "wie Tom Sawyer" , sagte er einmal in einem Interview: Als er 14 ist, hat er schon 37-mal den Wohnort gewechselt. Seine Mutter, ständig auf Achse, heiratet zunächst einen von Bühne zu Bühne wandernden Theaterregisseur. Später ehelicht sie einen Musiker.

An regulären Schulen lernt Julian inmitten der privaten Turbulenzen nur selten. Manchmal wird er zu Hause unterrichtet, meist verschlingt er Bücher, um sich autodidaktisch Wissen anzueignen. Bestätigung findet er am Computer, einem Commodore 64, an dem er zu programmieren beginnt. Was er an Computern möge, so Assange, sei ihre karge Strenge. Es sei wie beim Schach, da gebe es auch nichts Zufälliges, nicht zu viele Regeln, nur schwierige Denkaufgaben, die man lösen müsse. Nach dem Nortel-Verfahren studiert er an der Universität Melbourne Physik, rümpft aber bald die Nase über seine Kollegen, die er in Internetforen als karrieregeile Opportunisten schmäht. 2006 gründet er Wikileaks, im Dezember desselben Jahres veröffentlicht er zum ersten Mal ein Geheimdokument. Es geht um einen Warlord in Somalia, der Kriminelle als Auftragskiller anheuern will, damit sie störende Regierungsbeamte aus dem Weg räumen. (Frank Herrmann aus Washington/DER STANDARD, Printausgabe, 2.12.2010)