Helmut Schüller: "Die Kirche steht auf Kriegsfuß mit der Moderne, sie ist noch immer nicht in der Moderne angelangt."

Foto: Regine Hendrich

Helmut Schüller hält den Umgang der Österreicher mit Ausländern für unehrlich, Manager für unsouverän und gegängelt. Was er mit seinem päpstlichen Titel Monsignore tun wird, erzählte er Renate Graber.

STANDARD: Ich will über Karriere, Kapital und Kirche mit Ihnen reden. Sie sind hier an der Wirtschaftsuni Hochschulseelsorger – ist die Nachfrage hoch?

Schüller: Unterschiedlich: Mit manchen Diskussionsveranstaltungen treffen wir ins Schwarze; dann wieder kommt kein Mensch. In den Gottesdiensten sind mal mehr, mal weniger da. Wir wollen den jungen Leuten mitgeben, dass es mehr als Kostenrechnung und Marketing gibt: gesellschaftliche Zusammenhänge und Grundwerte, an denen Manager ihr Handeln ausrichten könnten. Ich hatte auch jahrelang ein eigenes Seminar: Ethik aus globalisierter Sicht.

STANDARD: Dann kam keiner mehr?

Schüller: Doch, ich mache das jetzt mit meinem Kollegen, Reinhard Paulesich. Davor habe ich das mit einem muslimischen Kollegen gemacht. Dann ist der gute Mann verstorben, mitten in der Vorlesung. Ich führte das fort, fast als Vermächtnis meines Freundes.

STANDARD: Wissen Ihre Studenten, dass Sie als Caritas-Chef 1993 WU-Manager des Jahres wurden?

Schüller: Dafür sind sie zu jung. Ich bin schon ein Stück Historie.

STANDARD: Die WirtschaftsWoche titulierte Sie "Generaldirektor Gottes". Hat Gott Generaldirektoren?

Schüller: Nein. Er hat viele Menschenkinder, die keine Generaldirektoren zwischen sich und ihm brauchen. Solche Behelfskonstruktionen sind nicht nötig, die kommen von woanders.

STANDARD: Woher?

Schüller: Aus Geschichte, Systemgetue, Machtsuche. Systeme werden sehr schnell von Behelfen zu Beherrschern, und am Schluss dienen fast alle dem System. Aber das ist schon sehr lang so.

STANDARD: Aber offenbar fühlen sich Menschen in Systemen wohl, ob in Kirche, ob in Staat.

Schüller: Ja, und da knüpft diese Systemtuerei an, auch wegen des Bequemlichkeitsfaktors. Die Menschen ordnen sich ein, hören mit dem Denken auf, lassen sich versorgen und betreuen. Auch unser Staat ist so ein System, eine demokratische Gesellschaft in ihrer Vollblüte wäre ganz etwas anderes. Da würden sich mündige Bürger in ihre eigenen Angelegenheiten einmischen, aktiv gestalten, Verantwortung übernehmen, etwas riskieren fürs Gemeinwohl. Zweierlei kommt zusammen: das Interesse an Machtkontrolle bei den einen, das Interesse am bequemen Dasein bei den andren. Am Schluss steht ein geschlossenes System, das nicht merkt, wenn es in die Jahre kommt. Und es ist längst in den Jahren.

STANDARD: Sie sind Pfarrer in Probstdorf seit Sie Kardinal Schönborn als Generalvikar der Erzdiözese Wien 1999 gefeuert hat. Vorher, als Caritas-Chef, beschrieben Sie sich als "Priester, Zeitgenosse und Politisierer". Jetzt hört man Sie nur noch selten politisieren.

Schüller: Stimmt. Das liegt aber nicht nur an mir. In Österreich braucht es Funktionen, damit man gehört wird, oder man schreibt ein Buch, das alle aufregt ...

STANDARD: Ihre "Notizen eines Landpfarrers" taten das nicht.

Schüller: Sollten sie auch nicht. Meine Funktionen nach der Caritas haben mich von der Öffentlichkeit weggeführt, und ich will auch nicht der Oberg'scheite sein. Jetzt kann ich an Punkten antauchen, wo wirklich etwas weitergeht. Als Pfarrer, bei Fairtrade, bei unserer Arbeit für Roma ...

STANDARD: Sie lernen sogar die Sprache Romanes?

Schüller: Hier liegt das Buch. Aber ich fange immer wieder an, die Sprache ist verteufelt schwierig.

STANDARD: Sarkozy wirft die Roma raus aus Frankreich.

Schüller: Der Umgang mit Roma ist ein europäischer Skandal erster Ordnung. Auch in Österreich gab es zuletzt beträchtliche Neuzuwanderung von Roma, die jetzt gewaltige Probleme haben: soziale, gesellschaftliche, Probleme miteinander. Da tut sich einiges, im untersten Segment unserer Gesellschaft, und da sollte man als Kirche mehr tun – aber ich weiß noch nicht genau, was.

STANDARD: Tony Judt, den Sie schätzen, schrieb in der "Geschichte Europas nach 1945", die Welt habe ihre gemeinsame Sprache der Moral verlernt, mit der sich Solidarität begründen ließe. Sehen Sie das auch so?

Schüller: Es gibt schon eine gemeinsame Sprache, aber sie ist hohl. Wir haben die großen Werte des Abendlandes, gespeist aus christlicher Tradition, Humanismus und Aufklärung, aber die müssen mit aktuelleren Werten gefüllt werden.

STANDARD: Ihre Beobachter sagen, dass Sie ab Ihrer Caritas-Zeit immer linker wurden. SP-Innenminister Löschnak, gegen dessen Ausländerpolitik Sie in den 90ern fochten, nannte Sie einen Verbalradikalen. Seither wurde die Ausländerpolitik noch restriktiver ...

Schüller: Die Politik hat in Hinblick auf Information der Bürger völlig versagt. Sie müsste einen Großteil ihres Geldes dafür verwenden, den Bürgern zu sagen, dass unser System politisch wie gesellschaftlich längst ein übernationales ist, dass die Offenheit für andere Kulturen überlebenswichtig ist, aus demografischen wie geistigen Gründen. Es geht um Ehrlichkeit: Eine Gesellschaft, die lautstark ihre Tür zuknallt, aber unterm Türschlitz massenhaft Leute hereinsaugt, um sie gewisse Arbeiten machen zu lassen, ist unehrlich. Mir wurde nach langem Nachdenken klar, dass die Integrationsdebatte ein Ablenkungsdrama ist, das mit gut verteilten Rollen aufgeführt wird. Ablenkung davon, dass es um die Frage der Verteilung geht. Auch die Hetzer in der Ausländerdebatte sind Helfershelfer des Kapitals.

STANDARD: Sie werden wirklich immer linker.

Schüller: Stimmt aber: Im Kern der Debatte geht es um den Weg, die Leute möglichst klein zu kriegen, damit möglichst Wenige möglichst viel haben, und möglichst Viele möglichst wenig. Indem man die Gesellschaft noch einmal auseinander dividiert, lenkt man sie ab. Man gibt ihr die Ausländer als Feinde, sie verbeißen sich darin – und merken gar nicht, dass ein Dritter dazu lacht.

STANDARD: Wer lacht?

Schüller: Die, die viel haben und noch mehr wollen und bekommen. Ich habe viele von ihnen kennengelernt: Manager, die überzeugt sind, dass sie dem größeren Ganzen dienen müssen, obwohl sie von fremden Fäden gelenkt sind. Unglaublich viele Manager dienen der Gier anderer – auch wenn sie damit gut leben.

STANDARD: Die viel zitierte Gier?

Schüller: Gier wie Habsucht machen sich irgendwann selbstständig. "Je mehr ich habe, desto mehr habe ich immer zu wenig", ist eine alte Faustformel von mir.

STANDARD: Die Elastizität des Nichthabens ...

Schüller: Ja, und darum trennen sich die Menschen immer weniger gern von ihrem Besitz, das merkt man bei den privaten Spenden. Denn die großen Styropor-Schecks, die man im Fernsehen sieht, die stammen meist aus der Firmenkassa – da hat der Kunde mitgespendet, indem er beim Tanken oder Einkaufen etwas mehr bezahlt hat. Meine Erfahrung ist, dass mit dem Besitz die praktizierte Solidarität abnimmt, das Angstvolumen dafür steigt: Je mehr jemand hat, desto mehr Angst hat er, es zu verlieren. Die Leute sind auch schon so weit weg von schlimmen Lebenssituationen, und mit dem Immermehrkriegen legen sie sich eine gewisse Arroganz zu: Sie reden sich allen Ernstes ein, dass sie alles selbst geschaffen haben.

STANDARD: Sie sagen, es gebe kein Eigentum. Wie meinen Sie das?

Schüller: Es gibt kein Eigentum, weil in alles, was wir schaffen, so viel von außen einfließt: fremde Arbeit, gesellschaftliche Umstände, günstige Atmosphäre, Frieden, Glück. Das merken wir erst dann, wenn es weg ist: Wir sind doch alle nur einen Sekundenbruchteil von einem ganz anderen Leben entfernt, nicht länger dauert ein Gehirnschlag. Das Glück aber lässt viele abheben, gefühllos werden für den Solidaritätsbedarf in einem Sozialstaat. Überheblich reden viele vom Sozialstaat, als wäre der eine Armenkasse, die sie gnädig mit ihren Beiträgen füllen – nicht bedenkend, dass sie ihn selbst binnen einer Sekunde bitter brauchen könnten.

STANDARD: Kann nur Unglück die Abgehobenen in die Realität zurückholen?

Schüller: Nein. Wir haben sonnenklare Richtlinien. Unsere Zivilisation baut auf den Menschenrechten auf, die Politik muss die implementieren, und auch Wirtschaft muss der Implementierung dienen: gerechte Einkommensverteilung, gerechte Bezahlung, Umweltverantwortung, Entwicklungszusammenarbeit. Das ist zwar alles längst niedergeschrieben, aber nur als Lesezeichen irgendwo aufgehoben.

STANDARD: Sie klingen bei Ihren Betrachtungen über Manager ein wenig nach Michael Moore.

Schüller: Es ist meine Erfahrung. Ich sitze sehr selten Managern gegenüber, die Souveränität und Gestaltungsfreiheit haben. Die meisten klagen sofort, wie schwer ihr Job ist, unter welchen Sachzwängen und Anfeindungen sie leiden. Da kann man ja die Spitzengagen wirklich nur als Schmerzensgeld verstehen. Tut das so weh? Tut das alles so weh, dass man die Grauslichkeiten machen und sich hoch bezahlen lassen muss, damit man es aushält? So kann Erfolg nicht riechen.

STANDARD: Als Generalvikar der Erzdiözese Wien haben Sie auch viel eingespart, wie ein echter Kapitalist.

Schüller: Stimmt, hat mir nicht nur Freunde gebracht. Ich habe die Priester-Besoldung reformiert, die Pensionsansprüche wurden reduziert. Ich spüre beide Nachteile.

STANDARD: Was verdienen Sie?

Schüller: Brutto 2100 Euro 14 mal im Jahr, plus Dienstwohnung.

STANDARD: Ihr Luxus? Urlaub an der Ostsee und am Schwarzen Meer?

Schüller: Sie sagen es. Ich habe die kleine Eigentumswohnung meiner Eltern übernommen, kaufe gern Bücher, und ich habe Schlittschuhe, weil ich gern eislaufe.

STANDARD: Sonntagvormittag, Wiener Eislaufverein, wie sich's ziemt?

Schüller: Da grade nicht.

STANDARD: Oh, das ist ja Ihre Hauptarbeitszeit.

Schüller: Ja, Sie müssen antizyklisch denken. Übrigens ist es angenehm, nicht zu viel Geld zu haben: Ich muss mir nicht überlegen, wie ich anlege. Wobei: Eine kleine Anlage habe ich, bei Oikokredit (Bank für Mikrokredite; Anm.). Die Dividende spende ich. 2009 war sie zwei Euro. Sie sehen: Ich kann schon mitreden, bei den Kapitalisten.

STANDARD: Haben Sie eine Theorie, warum Manager, wenn sie doch so leiden, nicht einfach ihren Job quittieren?

Schüller: WU-Professor Helmut Kaspar hat Interessantes erforscht: Für viele Manager ist emotionell das Unternehmen die Familie und die Familie das Unternehmen. Wärme beziehen sie im Job, die Familie, für die sie keine Zeit haben, können sie nur noch managen. Wahrscheinlich kann man auch in einer Vorstandsetage geborgen sein, in der alle vor einem knien und zittern. Das ist eine absurde, aber auch eine Art der Behausung. Ohne die fühlt man sich nackt, und der plötzliche Abschied ist schwierig, denn wohin soll man gehen, so nackt?

STANDARD: Verstehen Sie die Empörung über die Abfertigungen, wenn dann doch jemand den Hut nimmt?

Schüller: Ja, aber die kommt immer viel zu spät. Wieso lassen es sich die Leute gefallen, dass sie immer erst beim Abgang dieser Manager erfahren, was sich die bei ihrem Einstieg vertraglich versprechen haben lassen? Kann ein Manager so viel leisten, wie er verdient?

STANDARD: Erste-Chef Treichl hält dem entgegen, dass es niemanden empört, dass Sportprofis so viel verdienen. Hat er Recht?

Schüller: Ja, wenn er einen Zustand beschreibt. Nein, wenn er damit meint, dass es so bleiben soll, wie es ist.

STANDARD: Und warum stört es niemanden, wenn der Tennis-Profi Millionen verdient?

Schüller: Weil auch das Publikum korrumpierbar ist, auch das Publikum wird eingelullt – abgelenkt mit Mega-Events, mit Brot und Spielen. Wobei: Auch Politik wird ja oft als Unterhaltung dargeboten ...

STANDARD: Apropos: Sie waren früher Hobby-Kabarettist; haben Sie da Ihre Lehrer im Knabenkonvikt Hollabrunn wie Hans Hermann Groer auf die Schaufel genommen?

Schüller: Nein, das war später, als wir in Wien studiert haben. Die Politik unterhält aber nicht nur im fast komödiantischem Sinne, sondern sie wird als etwas anderes dargeboten als sie sein sollte: als große Bühne, auf der einige versagen oder brillieren, auf der die Sachthemen aber kaum vorkommen. Im schwierigen Geschäft der Politik hätte auch der Bürger Denkarbeit zu leisten – aber lustiger ist es im Zuschauerraum. Und statt dass die Zuschauer, die Basis, politische Aufträge erteilen, denken sie: Notfalls wählen wir die Politik ab – aber so geht nichts weiter. Denn es geht nur dann etwas weiter, wenn zumindest eine ausreichend artikulierte Minderheit ihre Anliegen klar formuliert.

STANDARD: So wie einst in der Umweltpolitik?

Schüller: Ja, oder wie viel früher in der Sozialpolitik, die von der Industriearbeiterschaft angetrieben wurde. Damals hatten die Arbeiter aber auch noch das Faustpfand ihrer Arbeitsleistung, die konnten noch Hebel umlegen und daher pokern. Das ist heute anders: Die schlechthin Überflüssigen haben keine Macht, haben nichts ins Spiel zu bringen. Und das ist das Drama unserer Zeit. Das wird sich erst ändern, wenn die Generation Praktikum und die, die von ihren Eltern durchgebracht werden und die, die in prekären Verhältnissen arbeiten mit den Überflüssigen gemeinsam artikulieren.

STANDARD: Die Studentenproteste im Vorjahr ...

Schüller: ... haben die Gesamtgesellschaftskritik nur ganz am Rande berührt. Derzeit kämpft jeder noch für sich.

STANDARD: Sie glauben, der Schmerz muss größer werden, damit Änderungen stattfinden?

Schüller: Ja, langfristiges Vorausahnen und Vorausarbeiten gibt es offensichtlich nicht in der Geschichte. Vermutlich müssen Gesellschaften immer wieder abrupt an große Probleme anstoßen, dann denken sie lange nach, und dann kommt es zu Artikulationen.

STANDARD: Ist die jetzige Wirtschaftskrise so ein abruptes Anstoßen?

Schüller: Ich schließe mich da dem Befund der Armutskonferenz und vieler anderer an: Die Leute werden ganz still absinken. Das ist der Weg durch eine Menge Verschämtheit, denn in einer Wohlstandsgesellschaft ist es nicht so leicht, arm zu werden und arm zu sein. Man hält lang den Anschein aufrecht – das ist ja auf der anderen Seite der Wirtschaft auch so. Nehmen Sie nur den lange hoch gepriesenen und angesehenen Industriellen, der jetzt über Nacht sein Imperium in den Straßengraben gefahren hat.

STANDARD: Sie sprechen von Mirko Kovats.

Schüller: Ja, ich erinnere mich lebhaft an seinen Auftritt in "Let's make money", als er durch sein indisches Unternehmen führte und laut über die Nicht-Sinnhaftigkeit von Gewerkschaften nachdachte. Das Paradoxe ist, dass das alles so glänzt und strahlt, und sogar den Leuten imponiert, die kurz darauf beim Erlöschen Opfer werden.

STANDARD: Da sind aber schon auch die schuld, die sich vom Schein blenden lassen.

Schüller: Ja, aber Sie wissen gar nicht, wie viele Leute frustriert herumlaufen, still von Erfolgen träumen und hadern, dass das Leben anders gelaufen ist als geplant. Da sind solche Projektionsflächen wie Erfolge anderer ideal.

STANDARD: Das war aber schon immer so.

Schüller: Ja, aber früher waren viele weggesperrt vom Erfolghabenkönnen, heute wird der Anschein erweckt, alle könnten alles haben und erreichen. Mit der Illusion steigt der Frust, der macht grantig und aggressiv. Und heute kommt noch das Anreizsystem der schnellen Finanzierung von Träumen dazu. Früher konntest du jene Träume wahrmachen, für die das Bargeld gereicht hat, heute kannst du deine Träume mit Krediten fiktiv erfüllen.

STANDARD: Daran geht aber gerade die Welt zugrunde.

Schüller: Ja, da gab es schon viele Einzelkatastrophen, heute durchleben wir das im Weltmaßstab.

STANDARD: Noch zu Ihnen und Ihrer Kirchenkarriere. Sie wollten schon mit fünf Jahren Priester werden – weil damals Kardinal König Ihren Kindergarten besucht hat?

Schüller: Nein, ich habe mich in das verliebt, was mein Pfarrer gemacht hat, das war so eine Art Frühfaszination. Das hat mich nie mehr losgelassen, obwohl mich die Juristerei später auch interessiert hätte. Da wäre ich wohl Anwalt geworden oder ins Polizeiwesen gegangen ...

STANDARD: Weil Ihr Vater Jurist und Sicherheitsdirektor in Niederösterreich war?

Schüller: Ja. Aber dann landete ich beim Seelsorger, und da ist man alles in einem. Ich habe mich früh mit sozialen und gesellschaftlichen Fragen beschäftigt, und bei uns daheim gingen die Leute ein und aus. Mein Vater war Vizebürgermeister von Orth an der Donau und Jurist, da kamen oft Leute um Ratschläge, und es gab immer Zeitungen daheim, und auch Wahlen waren immer ein Thema. Der gesellschaftliche Eros hat mich fasziniert – die Berufung in die Caritas war mir daher eine große Freude, das habe ich riesig gern gemacht. Und jetzt, jetzt bin ich wieder Einzelkämpfer.

STANDARD: Kardinal Schönborn hat wohl Ihre Karrierepläne durchkreuzt, als er Sie 1999 gekündigt hat. Er hat Ihnen den Kündigungsbrief unter die Türmatte gelegt. Hat Sie der Rauswurf oder der Stil mehr gekränkt?

Schüller: Die Abruptheit, das Nichterklären, das hat mich sehr irritiert und geschmerzt, aber so war's halt. Ich habe kurz bilanziert und dann sofort wieder in die Zukunft geschaut, so wie ich das jedem empfehle. Und weil Sie von Karriereplänen sprechen: Die hatte ich nie. Ich habe studiert, wurde Kaplan und habe die Pfarrerprüfung gemacht, weil ich eigentlich Pfarrer in der Stadt werden wollte.

STANDARD: Dompfarrer? Dann könnten Sie jetzt wie Anton Faber vom Donauturm Bungee-Jumpen, beim Einweihen der Anlage dort oben.

Schüller: Nein, ich wollte nicht Dompfarrer werden. Ich habe von einer Pfarre in einem der großen Außenbezirke geträumt.

STANDARD: Sie waren ab 1995 zehn Jahre lang Obmann für Missbrauchsopfer der Kirche. 1995 wurden die Vorwürfe gegen Kardinal Groer publik, er war Ihr Religionslehrer in Hollabrunn. Ihnen ist wirklich nie etwas aufgefallen?

Schüller: Ich war offenbar tabu für ihn gewesen, hatte mich immer sehr gefördert gefühlt von ihm. Ich bin 1995 zu Tode erschrocken, dass ich von all seinen Taten nichts wusste. In der Ombudsstelle habe ich aber gelernt, dass diese Abschottung der Opfer Merkmal von Missbrauchssystemen ist.

STANDARD: Das Thema Missbrauch hat die Katholische Kirche auch heuer enorm beschäftigt, sie hat nichts dazugelernt: In 60 Prozent der Missbrauchsfälle sind Priester die Täter, ergab eine vorige Woche präsentierte Studie. Sie als Priester waren Leiter der Ombudsstelle ...

Schüller: Das war auch ihr größter Schönheitsfehler, von Beginn an. Daher war immer der Plan, dass das geändert wird, nach zehn Jahren hatte ich mich zudem auch schon abgearbeitet an dem Thema.

STANDARD: Ist Ihre Priesterseele eigentlich strapazfähiger als andere?

Schüller: Sie hält einiges aus, offensichtlich. Mir wurde in der Ombudsstelle klar, welch tiefe strukturelle Konsequenzen die Kirche aus den Missbrauchsfällen ziehen müsste: von der Personalauswahl über die Einstellung zur Sexualität, und vor allem den Umgang mit Macht und Autorität. Die Sexualität ist das Gewand, in dem das alles daherkommt, in Wahrheit geht es um die Probleme von Menschen, die Ohnmächtige brauchen, um sich selbst auszuleben. In Kombination mit dem Priesteramt, das so viel Macht und Autorität birgt, ist das schlicht ein Giftbecher.

STANDARD: Der Ausweg?

Schüller: Es braucht einen Umbau im Selbstverständnis der Rollenträger, mehr Auswahl, kritische, begleitende Kontrolle und eine andere Dienstkultur: Der auf sich selbst gestellte Pfarrer, der Einzelkämpfer, der von niemandem zur Rechenschaft gezogen wird, ist eine gefährliche Sache. Die Diözesen müssen besser kooperieren.

STANDARD: Das haben Sie aber schon 2005 schriftlich festgehalten. Geschehen ist nichts.

Schüller: Zu wenig, zu schleppend, meine Mitstreiter und ich, wir waren einsame Rufer in der Wüste. Erst heuer, nach der jüngsten Welle von Missbrauchsfällen, ist mehr geschehen. Bis dahin hat die Kirche auf Vertuschen und Skandalbewältigung in Form von Überlebenwollen durch ungeeignete Maßnahmen gesetzt; sie war sehr naiv und wusste so wenig über Missbrauchssysteme, über die Problematik solcher schwer gestörter Persönlichkeiten. Missbrauch wird ja bis hinauf zum Papst auch heute noch überwiegend als moralisches Problem betrachtet – dabei geht es um eine Krankheit, eine schwere Störung. Und was hat die Kirche gemacht? Sie hat die Täter versprechen lassen, dass sie das nicht mehr tun und sie versetzt. In Bereiche, wo die Versuchungen wieder so groß waren, wo alles wieder von vorn begann. Ich habe immer gesagt: Solche Menschen muss man aus dem Priesterberuf entlassen. Diesen Fragen stellt sich die Kirche auch heute noch sehr zögerlich.

STANDARD: Sie ist feig?

Schüller: Ja, denn wenn man diese Themen offen anspricht, kommt vieles in Bewegung. Die Angst vor der Nicht-mehr-Kontrollierbarkeit spielt eine wichtige Rolle.

STANDARD: Wird die Klasnic-Kommission etwas ändern können? Auch Frau Klasnic wurde von der Kirche ausgewählt.

Schüller: Richtig wird es erst dann, wenn neue Strukturen geschaffen werden. Und das ist Sache der Bischöfe, der Mitarbeiter und demokratischer Mitverantwortlicher. In unserem feudalen System, mit einem Hauptverantwortlichen, der von niemandem kontrolliert wird ...

STANDARD: ... Sie meinen den Papst?

Schüller: Ja, und den Bischof, der nur dem Papst Rechenschaft schuldet. Dieses System generiert ein Volumen von Verantwortung, das keiner tragen kann und das auch gar nicht wünschenswert ist. Die Kirche sollte sich des Hausverstands bedienen, der in den Pfarrgemeinden ja vorhanden ist – und den in gemeinsame Entscheidungen einbinden. Jetzt schaut jeder gebannt nach oben und wartet, ob der oben eine Entscheidung trifft, und wenn er das tut, ist jeder ganz ergriffen. Die Kirche steht auf Kriegsfuß mit der Moderne, sie ist noch immer nicht in der Moderne angelangt.

STANDARD: Die Kirche ist im Mittelalter steckengeblieben?

Schüller: Jedenfalls hat sie lange versucht, die Moderne zu verhindern. Menschenrechte, Demokratie: Das waren lange Vokabel, die schwer verpönt waren und erst langsam unter massivem Druck der Zeit ein bisschen hereingeholt wurden und durch Konzilien vorsichtig salonfähig gemacht wurden. Das ist ja das Drama unserer Kirche: Sie verhindert Entwicklungen und gestaltet sie daher nicht mit.

STANDARD: Ist aber schwer aufzuholen.

Schüller: Nur, wenn die Kirche beginnt auf die Zeit zuzugehen, wenn sie jene zivilisatorischen Schritte nachvollzieht, die an ihr vorübergegangen sind. Es geht um Gleichberechtigung, Lehre, Dogmen, demokratische Teilhabe, die wiederum Teil der menschlichen Würde ist.

STANDARD: Klingt, als hielten Sie die Kirche für einen Fall für den Konkursrichter.

Schüller: Wenn es so weitergeht, wird es immer weniger relevant werden, was Bischöfe oder Papst tun oder sagen.

STANDARD: Grade reden aber alle über den Papst und seine Kondom-Aussage.

Schüller: Das mag aus Sicht der Medien so aussehen, aber wenn man selbst in der Kirche arbeitet, muss man über die Prominenz dieser Nachrichten sehr schmunzeln. Niemand wartet mehr auf solche Aussagen, die Pfarrer und ihre Gemeinden gehen längst andere Wege.

STANDARD: Anarchie?

Schüller: Die Anarchie hat längst begonnen.

STANDARD: Sie glauben ernsthaft, dass die Katholische Kirche nach 2000 Jahren stürzen könnte?

Schüller: Ja, und der Wiederaufbau wird eine mühselige Geschichte werden; das Zentrum wird vielleicht nicht in Rom sein, vielleicht entsteht eine dezentrale, neue Weltkirche. Oder es ergeht, was viele vermuten, allen Großkirchen gleich, und es schließen sich ähnlich orientierte Flügel verschiedener Großkirchen zusammen.

STANDARD: Da könnten Sie ja noch Gründungsvater werden?

Schüller: Nein dafür bin ich zu alt, das kommt erst in 30, 40 Jahren

STANDARD: Sie selbst sind ja ein Ungehorsamer. Ihr Priesterverein hat 300 Mitglieder, tritt zum Beispiel für verheiratete Pfarrer ein. Wollten Sie eigentlich nie Familie? Waren Sie einmal verliebt?

Schüller: Beides schon, aber für eine Familiengründung hat es nie gereicht. Jedenfalls soll es einem Priester freistehen, seinen Familienstand zu wählen.

STANDARD: Den Priesterverein organisieren Sie mit Pater Uwe Fischer, mit dem Sie im Knabenseminar in Hollabrunn in die Klasse gegangen sind. Es heißt, Sie hätten mit zehn Jahren beschlossen, ins Internat in Hollabrunn zu gehen. Ihre Familie war entsetzt, weil es dort Riesenschlafsäle gab, nur kaltes Wasser und alles furchtbar schien ...

Schüller: Ja, so war das. Mich hat das aber fasziniert, wir haben auch unheimlich viel gemacht, Sport, Musik – es war für mich wie ein Bubenparadies. Aber ich war auch sehr gern daheim, wurde ja eben nicht ins Internat gesteckt – und genau bei solchen verschickten Kindern liegt der Ansatz für Missbrauchsfälle. Die Täter spüren das Vakuum bei ihnen und dort haken sie ein.

STANDARD: Sie sagen, Groer hätte zwei Gesichter gehabt. Wie hat das zweite ausgesehen?

Schüller: Da war er aufgeschlossen, hatte immer die letzten neuen Schallplatten in der Sammlung, unsere Bibliothek war immer am jüngsten Stand und auch sein Religionsunterricht war damals ziemlich interessant.

STANDARD: Sie sagen also, die Pfarrer und ihre Gemeinden gingen längst andere Wege als Rom, es herrsche Anarchie. Was, wenn der Papst weiter nicht auf die Basis eingeht?

Schüller: Ich weiß nicht, was dann kommt. Vielleicht wird die Großkirche irrelevant, vielleicht findet Kirche nur noch an der Basis statt, als Christengemeinde. Wobei, die Kirche würde auch abgehen als Reibebaum, und manche Katholiken würde das große Gepränge den Pomp vermissen.

STANDARD: Sie dürften als Monsignore auch rot gewandet herumlaufen: Den Titel haben Sie als Caritas-Chef vom Papst bekommen.

Schüller: Ich will das Dekret zurückschicken. Schreibe dazu, dass ich den Titel nicht mehr gebrauchen will und: Danke für die Ernennung.

STANDARD: Worum gehts im Leben?

Schüller: Darum, das umzusetzen, wofür man da ist auf der Welt. Und das zu sein, was man eigentlich sein will. (Renate Graber, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 4./5.12.2010)