Fast auf den Tag genau vor 236 Jahren wurde in Österreich die vielleicht wichtigste, sicher aber nachhaltigste, weil bis heute wirksame Schulreform beschlossen. Am 6. Dezember 1774 unterzeichnete Kaiserin Maria Theresia die "Allgemeine Schulordnung für die deutschen Normal-, Haupt und Trivialschulen in sämmtlichen Kayserlichen Königlichen Erbländern". Eine nachgerade umstürzlerische Radikalreform, denn die bis dahin fest in der Hand der Kirche liegende Bildung wurde zu einer Angelegenheit des Staates erklärt.

Die Einführung einer sechsjährigen Schulpflicht gab der Alphabetisierung für die große Masse der bildungsfernen Schichten in den "Trivialschulen" (Volksschulen) entscheidende Schubkraft, und vieles in der heutigen Schule ist ein Erbe dieser Theresianischen Schulreform, etwa der Unterricht im Klassenverband. Besonderes Augenmerk lag auf der Bildung der Lehrer, die in "Normalschulen" die Normen des Unterrichts vermittelt bekamen.

Mehr als zwei Jahrhunderte später steht die "Lehrerbildung neu" ganz oben auf der Agenda. Wird auch Zeit. Ein Reformdetail. Aber nur eines von vielen. Nicht nur, weil Österreich das vierte schlechte Pisa-Zeugnis bekommen hat. Mehr als ein Viertel der Jugendlichen sind am Ende ihrer Pflichtschulzeit de facto Teil-Analphabeten. Die Schule, die sie dazu gemacht hat und macht, ist organisatorisch und strukturell im Prinzip noch immer die von Maria Theresia.

Es sollte einleuchten, dass ein Bildungssystem, das für das 18. Jahrhundert revolutionär und effektiv war, den veränderten Ansprüchen und Lebensrealitäten im 21. Jahrhundert nicht mehr gerecht werden kann. Aber: Das politische Österreich weidet sich seit Jahrzehnten an einem Schulk(r)ampf, dessen Opfer in den Schulen sitzen.

Für diesen Befund hätte es der Pisa-Studie gar nicht mehr bedurft, aber als Signalfeuer ist sie wichtig und relevant. Dass es peinlich ist, auf einer Skala von 34 OECD-Staaten die Nummer vier von unten zu sein, ist das eine. Aber ein hochentwickeltes, ökonomisch starkes Land mit einer stetig wachsenden Rate von Schulpflegefällen ist eine obszöne Monstrosität.

Österreich ist an einem Punkt angelangt, an dem die seit der Nachkriegszeit gelungene Bildungsexpansion ins Stocken gekommen ist - und, schlimmer noch, für eine wachsende Gruppe von Menschen implodiert. Der "Fahrstuhleffekt", wie ihn der Soziologe Ulrich Beck nannte, funktioniert für viele nicht mehr - nämlich, dass die gesamte Gesellschaft, zwar unter Mitnahme bestehender Ungleichheiten, aber doch stetig nach oben fährt und einen kollektiven Zugewinn an Bildung, Konsum und Wohlstand erfährt.

Pisa 2009 stützt eher die These vom "Paternostereffekt", den der Politologe Christoph Butterwegge vertritt. Während einige weiter ungestört nach oben fahren (die, deren Eltern schon oben sind), geht's für andere ab nach unten (sozioökonomisch schwache, bildungsferne Familien, Migranten). Das Versprechen, Bildung bringt mehr Lebens- und Teilhabechancen, bleibt für diese "anderen" hohl.

Eine Gesellschaft, die sich darauf beschränkt, immer mehr Bildungsproletarier zu produzieren, zerstört mehr als das individuelle Glück dieser Abwärtsfahrenden: Sie bedrängt auch die Wachstumsmaschine, die uns mit Wohlstand versorgt. Eine politisch so blinde Gesellschaft gefährdet sich selbst. Denn eine starke Demokratie wird aus aufgeklärten Bürgerinnen und Bürgern gebildet - buchstäblich. (Lisa Nimmervoll/DER STANDARD-Printausgabe, 9.12.2010)